Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
Gefühl, dass du mich nur deshalb flachlegen willst, weil ich halt eine Frau bin und du nicht weißt, was du sonst mit mir anstellen sollst. Sonderlich scharf findest du mich aber gar nicht.«
Er seufzte und sah mich an. »Stimmt«, sagte er. »Finde ich nicht. Versteh mich bitte nicht falsch, du hast schon einen netten Körper und so. Ich würde dich nicht abweisen, wenn du jetzt die Beine für mich breit machen würdest, aber ich hab echt schon viel geilere Weiber gehabt.«
Ich nickte. »Dachte ich’s mir doch.«
»Was hat mich denn verraten?«
»Der Kuss.«
Er richtete sich ruckartig auf. »Ich küsse wie ein Wahnsinniger!«
»Es war der Kuss eines frustrierten Mannes, der von gekränktem Stolz erfüllt ist. Es steckte keine Leidenschaft darin.« Ich reichte ihm einen weiteren Zweig. »Sprich doch einfach mit mir. Tu so, als wäre ich ein Reisender, der an deinem Lagerfeuer Rast macht. Du bekommst doch sicherlich nicht allzu oft Besuch. Bleibst du denn die ganze Zeit in dem Nebel?«
»Während der Flairs komme ich heraus, um zu spielen.« Er deutete mit großer Geste auf den See und den Wald. »Ich fische, ich jage. Es ist ein schönes Leben.«
»Dann wechselst du also nur während eines Flairs in die wirkliche Welt hinüber?«
»Ja.«
»Aber ein Flair kommt nur etwa alle sieben Jahre. Und dazwischen bist du hier, ganz allein, ohne jede Gesellschaft?«
Er pfiff. Eine zottelige Gestalt trottete aus der Dunkelheit herbei und legte sich ihm zu Füßen. Ein großer, schwarzer Hund. »Ich habe ja Conri.«
Der Hund reckte die Pfoten in die Luft, drehte sich auf den Rücken, wollte den Bauch gekrault bekommen. Bran befolgte den Wunsch. »Und wenn mir langweilig wird, schlafe ich. Manchmal schlafe ich jahrelang, bis sie mich wieder weckt.«
Ich hielt meinen Kaninchenknochen dem Hund hin. Er zog ihn mir vorsichtig aus den Fingern und ließ sich zu meinen Füßen nieder, um auf dem Knochen herumzukauen. Und ich dachte schon, ich wäre allein. Aber ich konnte immerhin noch aus dem Haus gehen und mich mit anderen Leuten treffen. »Du musst schon eine ganze Weile hier sein, aber du sprichst ohne irgendeinen Akzent.«
»Das ist die Gabe des Quatschens. Eine der drei Gaben, die ich von ihr bekommen habe. Die Gabe des Quatschens: Ich kann jede beliebige Sprache sprechen. Die Gabe der Gesundheit: Verletzungen heilen bei mir sehr schnell. Und die Gabe der Zielgenauigkeit: Ich treffe, was ich sehe. Die vierte Gabe gehört zu mir. Damit wurde ich geboren.«
»Welche ist das?«
»Gib zu, dass es der beste Kuss war, den du je bekommen hast, und ich werde es dir verraten.«
»Tut mir leid, aber da fallen mir sofort ein paar bessere ein.« Oder zumindest eine r …
»Wieso vergeude ich überhaupt meine Zeit mit dir?«
Ich schüttelte den Kopf. Er war keine reale Person. Er war nur der Schatten einer Person, jemand ohne Erinnerungen und Bindungen, mit weiter nichts als einem ausgeprägten Geschlechtstrieb, einem zielgenauen Schuss und einem hinreißenden Blick.
»Woher stammst du?«
Er zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht mehr.«
»Also gut. Aus welcher Zeit stammst du? Wie lange bist du schon hier?«
»Ich weiß es nicht.«
Ich überlegte mir etwas Markantes, etwas, das jeder Mensch von sich wusste. »Wie war der Name deiner Mutter?«
»Ich weiß es nicht.«
Ich sah zum Sternenhimmel empor. Diese Mission war doch von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Wem wollte ich denn hier noch was vormachen?
»Blathin«, sagte er mit einem Mal. »Sie hieß Blathin.«
Er nahm meine Hand und zog mich empor. »Komm! Ich werde dir etwas zeigen.«
Wir liefen am Ufer des Sees entlang und dann in den Wald hinein. Ich erblickte eine von Bäumen eingerahmte Blockhütte, von der ein langer Holzsteg auf den See hinaus führte. Bran zog mich hinein.
Dort brannte ein Feuer im Kamin. Rechts stand ein schlichtes Bett an der Wand, links eine Reihe von Truhen. Schnitzereien schmückten die Wände: ein Baum, Runen, Krieger. Viele, viele Krieger, auf monströse Weise muskulös und liebevoll detailgetreu geschnitzt. Darunter, auf einem Tisch, lag eine offene Schriftrolle, auf der ein Mann mit einem langen Stab dargestellt war, der ein Mönchsgewand trug. Er saß auf einem großen Stein. Neben ihm tollten Nixen in den Wogen des Meeres. Der Hirt e …
Bran nahm meine Hand, zog mich zu einer der Truhen und klappte den schweren Deckel hoch. Ein weißes Tuch war über den Inhalt gebreitet. Er zog es beiseite. Menschenköpfe
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