Stadt der Fremden
unausgesprochene Übereinkunft zwischen Flüchtlingen aus einer Kleinstadt lautet: Schaut nicht zurück, hängt nicht aneinander, kein Heimweh. Ich erwartete von keinem von ihnen, dass er zurückkehrte.
Auf dieser Reise nach Botschaftsstadt hatte Scile seinen Tiefschlaf abändern und sich Geronen geben lassen, sodass er währenddessen altern würde. Es ist eine rührende Geste, dafür zu sorgen, dass der Schlaf während der Reise einen nicht jung hält, wenn unterdessen der arbeitende Partner älter wird.
Tatsächlich lag er nicht die ganze Zeit im Tiefschlaf. Mit der Hilfe von Medikamenten und Augmens verbrachte er einen kleinen Teil der Reise im Wachzustand und mit seinen Studien, wo das Immer es ihm erlaubte. Er unterbrach seine Arbeit, wenn er Panikattacken mit chemischen Mitteln unterdrücken oder abwenden musste.
»Hör dir das an«, sagte er zu mir, als er etwas las. Wir saßen am Tisch und durchfuhren gerade sehr ruhige Untiefen des Immer. Aus Rücksicht auf seine Stets-Krankheit aß ich Dörrobst, eine fast geruchlose Speise. »›Man ist sich natürlich bewusst, dass jeder Mensch zwei Münder oder Stimmen hat‹«, zitierte er laut. »Hier …« Er wies auf die Textstelle hin. »… haben sie Sex, indem sie sich gegenseitig etwas vorsingen.« Es war irgendein uraltes Buch über ein flaches Land.
»Was soll dieser Unsinn?«, fragte ich.
»Ich halte Ausschau nach Epigrafen«, antwortete er. Dann prüfte er andere alten Geschichten. Während er nach erfundenen Cousins der Gastgeber suchte, wies er mich auf Beschreibungen der Chorier, Tucans, Ithorier und Wess’har hin, erdichtete Untiere mit zwei Zungen. Ich konnte seine Begeisterung für diese grotesken Figuren nicht teilen.
»Ich könnte Sprüche 5,4 haben«, sagte er und starrte auf seinen Bildschirm.
Ich fragte nicht nach einer Erklärung. Wir übten uns mitunter auf diese Weise im Zweikampf. Stattdessen lud ich eine Bibel hoch, als ich allein war, und fand die Textstelle: »Zuletzt jedoch ist sie wie Wermut bitter und scharf gleichwie ein doppelschneidig Schwert – eine Waffe mit zwei Mündern.«
Die Gastgeber sind nicht die einzigen Außerirdischen mit mehreren Stimmen. Offensichtlich gibt es Rassen, die gleichzeitig zwei, drei oder zahllose Töne abgeben, um zu sprechen. Die Gastgeber,die Ariekei, sind vergleichsweise einfach. Ihre Rede ist ein Ineinandergreifen von nur zwei Stimmen, die auf eine zu komplexe Weise unterschiedlich sind, um als »Bass« oder »Sopran« abgestempelt zu werden. Zwei unentwirrbare Töne geben sie jeweils von sich: Sie können mit keiner der beiden Stimmen allein sprechen. Dies entstand durch die zufällige Koevolution eines vokalisierenden Mundes, der dem Zweck der Nahrungsaufnahme diente, und eines spezialisierten Organs, das einst wahrscheinlich für die Äußerung von Warnsignalen bestimmt war.
Die ersten BKL -Gelehrten hörten ihnen aufmerksam zu, protokollierten alles und verstanden so die Gastgeber. »Heute haben wir gehört, wie sie über ein neues Gebäude sprachen«, erzählten auf dem alten Trid zwei fassungslose Gestalten Scile und mir. »Heute haben sie über ihre Bio-Arbeit diskutiert.« »Heute haben sie die Namen von Sternen aufgelistet.«
Wir sahen, wie Urich, Becker und ihre Kollegen – keiner von ihnen war schon berühmt zu der Zeit, der wir nachspionierten – die Töne der Einheimischen nachahmten und ihnen gegenüber ihre Sätze wiederholten. »Wir wissen, dies ist eine Begrüßung. Wir wissen das definitiv.« Wir beobachteten, wie eine seit Langem tote Linguistin einem wartenden Ariekei Töne vorspielte. »Wir wissen, dass sie hören können«, erklärte sie. »Wir wissen, dass sie verstehen, indem sie einander zuhören. Wir wissen: Wenn einer seiner Freunde genau das sagen würde, was ich gerade angespielt habe, verstünden sie sich gegenseitig.« Ihre Aufnahme schüttelte den Kopf mit Blick auf uns, und Scile schüttelte seinen eigenen.
Von der Erleuchtung selbst gibt es nur Urichs und Beckers schriftliches Zeugnis. In dieser Angelegenheit brandmarkten andere aus ihrer Gesellschaft das Protokoll als Falschdarstellung, doch es war das Urich-Becker-Manuskript, das zur Geschichte wurde. Vor langer Zeit hatte ich die Kinderfassung gesehen. Ich erinnerte mich an das Bild von diesem Moment: Die Züge von Urich waren ein Hochgenuss für den Karikaturisten, der dessen Konterfei und das feinere Gesicht von Sura Becker überzeichnet und mit übertriebenen Glotzaugen wiedergegeben hatte, als sie
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