Stadt der Masken strava1
Luciens Eltern waren ein Gebinde weißer Rosen und sie hatten ein Vermögen dafür ausgegeben, die altmodische Sorte zu bekommen, die so wunderbar duftete. Später würden sie noch die Urne abholen müssen, denn sie hatten beschlossen, die Asche nach Venedig zu bringen und in den Canale Grande zu streuen. Luciens Asche mitsamt den Resten der Silbermaske, die der Bestatter auf ihr Geheiß mit in den Sarg gelegt hatte. Jetzt hatten sie es noch vor sich, mit all den Trauergästen zu reden und dann nach Hause zu fahren, wo ein Imbiss wartete.
»Sollten wir ihn auch einladen?«, flüsterte Vicky. In dem Augenblick trat der Mann auf sie zu. Er hatte die unglaublichsten, durchdringendsten schwarzen Augen, und als er die Hand von Luciens Mutter ergriff, vergaß sie völlig ihn zu fragen, wer er war und woher er kam. »Es tut mir so unendlich Leid«, sagte er mit offensichtlicher Aufrichtigkeit. »Ich wünschte wirklich, es wäre anders gekommen.«
»Danke«, sagte Vicky. »Das ist mein Mann David.« Der Mann schüttelte auch Luciens Vater die Hand – und dann sagte er etwas höchst Seltsames. »Ihr Sohn lebt noch, müssen Sie wissen, nur an einem anderen Ort. Und er wird Sie nie vergessen. Er wird stets an Sie denken, so wie Sie an ihn denken. Er wird gesund und glücklich aufwachsen und eines Tages werden Sie ihn wieder sehen.«
Vicky schossen Tränen in den Augen, und als sie wieder sehen konnte, war der Mann verschwunden. »Ein Spinner«, sagte ihr Mann. »Offensichtlich ein religiöser Spinner, der auf anderer Leute Beerdigungen geht und von der kommenden Welt redet. Reg dich nicht über ihn auf.«
»Er hat mich nicht aufgeregt, David«, erwiderte sie. »Und wie ein Spinner ist er mir auch nicht vorgekommen. Im Gegenteil, ich fand seine Worte tröstlich.«
Lucien und Dethridge hielten besorgt an Rodolfos Lager Wache. In der Kammer brannten Kerzen und sie konnten die Stimmen der drei Frauen hören, die noch immer im Laboratorium waren.
Schließlich seufzte die scheinbar fest schlafende Gestalt auf und Rodolfo öffnete die Augen. Er setzte sich auf und nahm den Ring ab.
»Haben Sie sie gesehen?«, fragte Lucien. »Haben Sie ihnen von mir erzählt?«
Rodolfo nickte. Er nahm eine weiße Rose aus seinem Hemd und reichte sie Lu
cien wortlos.
Lucien zog den Atem ein. »Sie haben etwas mitgebracht!«
»Dafür gibt es einen Grund«, erklärte Rodolfo. »Bitte, Dottore, wenn Ihr nichts dagegen habt, möchte ich allein mit Lucien reden.«
Es war schon viel später, als die beiden aus der Schlafkammer kamen. Die Mor
gendämmerung brach an und das zartblaue, einmalige Licht Bellezzas erfüllte das Laboratorium. Lucien war sehr blass.
Arianna kam herbeigelaufen und nahm seine Hand. Während der langen Nacht hatte sie mit Silvia und Leonora und Dethridge geredet und mehr von dem beg
riffen, was geschehen war. Mit ihren Eltern war sie nicht mehr böse und sie fürchtete sich nicht mehr vor ihrer Verantwortung; in ihrem Herzen war kein Platz für irgendeine Regung außer dem überwältigenden Mitgefühl für ihren Freund.
Lucien lächelte ihr zu. Er war todmüde. Aber er wusste, dass er in dieser Welt ein neues Leben vor sich hatte. Dennoch hatte er das Gefühl, dass es lange dauern würde, bevor er wieder unbeschwert und glücklich sein könnte.
»Es gibt einige Dinge, die wir regeln müssen«, sagte Rodolfo. »Weil Luciano in die Angelegenheiten unserer Welt verwickelt wurde, hat er seine eigene verloren.
Wir, die wir in diesem Raum versammelt sind, müssen ihm unsere Freundschaft, unser Verständnis und unseren Schutz anbieten. Ich bezweifle, dass er bereits außer Gefahr ist. Und da er noch minderjährig ist, biete ich ihm an, als sein Pfle
gevater einzuspringen.«
»Nein«, sagte Dethridge. »Der Junge braucht zwei Eltern und Ihr, edle Dame« –
hier wandte er sich an Silvia – »könnt kaum mit Eurem angetrauten Mann leben, wenn Euer Überleben ein Geheimnis bleiben soll.«
Lucien war verblüfft. Der angetraute Mann der Duchessa? Rodolfo machte ein verlegenes Gesicht und Lucien vermutete, dass wohl eine Menge geschehen war, während man ihn gefangen gehalten hatte.
»Außerdem denke ich, dass ihn Arianna vielleicht nicht gerade als Bruder haben will«, sagte Leonora zur Überraschung aller. Arianna errötete. Es hatte sie immer verwundert, festzustellen, wie viel ihre Tante von ihr wusste.
»Was ist also zu tun?«, fragte Silvia. »Es sollte sich keiner um Luciano kümmern, der nicht von seinem Geheimnis
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