Stadt der Masken strava1
plötzlichen Eröffnungen, als dass er noch mehr fassen konnte. Sie erinnerte sich, dass sie mit Rodolfo böse war, doch selbst das schien einen Grund zu haben, der weit zurücklag und den sie nur aus der Ferne betrachten konnte. Ob sie wohl wieder ohnmächtig wurde?
Rodolfo sah mit einem Mal alt und grau aus. Sie wusste nicht, was sie ihm sagen sollte. Aber er ersparte es ihr.
»Ich weiß, dass du verletzt bist von dem, was Silvia getan hat«, fing er an. »Und was ich eben vor dem Senat gemacht habe. Wir waren beide der Ansicht, dass deine nicht gespielte Überraschung über unsere Elternschaft die Leute überzeugen würde, dass wir die Fakten erfolgreich vor allen verborgen hatten, auch vor dir. Andernfalls hätten sie unsere Geschichte vielleicht nicht geglaubt. Ich konnte ihnen doch nicht sagen, dass ich selbst erst vor ein paar Tagen erfahren hatte, dass du Silvias Tochter bist – und sogar noch später, dass du auch meine bist.«
Er hielt inne. Arianna versuchte ihn zu verstehen.
»Ihr habt wirklich nie gewusst, dass die Duchessa ein Kind hatte?«
Rodolfo schüttelte den Kopf. »Wenn ich es gewusst hätte, glaubst du, ich hätte sie diesen verrückten Plan durchziehen lassen? Glaubst du, ich hätte zugelassen, dass sie mich meines Kindes beraubt? Nein, dann hätte ich dich selbst aufge
nommen und mich mit dir in einem fernen Land versteckt und sie lieber nie wie
der gesehen, als dass ich so einem Vorhaben zugestimmt hätte!«
Arianna fühlte Sympathie für ihn in sich aufsteigen.
»Ich habe ihr wegen der Lügen und der Unsicherheit, in der sie mich tagelang gelassen hat, schwere Vorwürfe gemacht«, fuhr er kopfschüttelnd fort. »Solche Tage möchte ich nicht noch einmal durchmachen müssen. Aber letzten Endes musste ich akzeptieren, dass sie in Übereinstimmung mit allem gehandelt hat, was sie für richtig hielt. Doch glaube nur nie, dass du nicht erwünscht warst, meine Tochter.«
Er griff nach ihren beiden Händen und küsste sie sanft auf die Stirn. »Und nun müssen wir zu meinem Palazzo zurückkehren, ohne über alles so reden zu kön
nen, wie wir sollten. All meine Irrtümer hatten noch größeres Unrecht zur Folge, um das ich mich kümmern muss. Aber ich vertraue darauf, dass wir in Zukunft genug Zeit haben werden, um miteinander zu reden – Zeit, in der ich mir die Jahre deines Lebens zusammensetzen kann, die mir entgangen sind.«
William Dethridge wusste auf Anhieb, dass etwas mit Lucien anders war.
»Ah, wohlauf, junger Mann!«, rief er, kaum dass sie alle das Laboratorium betra
ten, doch dann fuhr er mit durchdringendem Blick fort: »Du hast dich verwandelt und bist einer geworden wie ich.«
Danach sagte er nichts weiter, aber er nahm den Jungen lange in die Arme und ging dann und setzte sich in eine dunkle Ecke.
»Du weißt, dass Maestro Crinamorte ein Fenster auf deine Welt gerichtet hat?«, fragte Rodolfo seinen Schüler.
»Ja«, sagte Lucien und überlegte, ob er nun auch einen neuen Namen bekom
men würde. Er fühlte sich so verletzlich wie ein ungetauftes Baby.
»Wir haben darin etwas gesehen, was dich traurig machen würde«, sagte Rodol
fo. »Aber ich muss noch einen Blick hineinwerfen. Willst du mit mir schauen?«
Lucien nickte. Er traute sich nicht zu reden. Rodolfo zog den silbernen Schleier beiseite. Es war seltsam für Lucien, sein eigenes Zimmer zu sehen – beinahe un
erträglich, weil er doch wusste, dass er es nie wieder sehen würde. Während sie in den Spiegel sahen, tauchte Luciens Mutter darin auf. Er war entsetzt: Sie sah so viel älter aus als in seiner Erinnerung und doch war in seiner Welt nicht so viel Zeit vergangen, seit er sie zuletzt gesehen hatte.
Sie wirkte dünn und angegriffen. Vielleicht fiel es mehr auf, weil sie ein schwar
zes Kleid trug, das Lucien noch nicht kannte. Sie kniete sich auf sein Bett und nahm die silberne venezianische Maske von dem Haken an der Wand.
»Kannst du verstehen, was du da siehst?«, fragte Rodolfo. »Was bedeutet es?«
Lucien nickte. »Schwarz trägt sie nur bei Beerdigungen, aber das Kleid kenne ich noch nicht. Und die Maske haben sie mir in Venedig geschenkt.«
Rodolfo sah ihn besorgt an. »Dann muss ich auf der Stelle gehen.«
Seit Lucien nach Talia gereist war, hatte er selbst keine Zeitreise mehr unter
nommen. »Es ist früher Abend hier bei uns, also wird es in deiner Welt früh am Morgen sein. Deine Mutter ist zeitiger auf als sonst, vielleicht, weil sie nicht schlafen kann. Sag mir deine Adresse,
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