Stadt der Masken strava1
konnte.
»Nein«, sagte Rodolfo mit schmerzlichem Ausdruck. »Ich habe dich im Stich gelassen. Ich konnte dich nicht rechtzeitig finden, um dich nach Hause zu schicken, und nun ist es zu spät.«
Schweigen legte sich über den Raum.
»Was genau ist nun eigentlich im Volkssenat passiert?«, wollte Silvia wissen.
»Di Chimici hatte einen zweiten Anklagepunkt gegen Arianna in der Hinterhand«, sagte Rodolfo. »Er wollte sie der Hexerei bezichtigen, weil sie angeblich einen Dämonen im Bekanntenkreis hatte – unseren Freund Luciano. Di Chimicis Strohpuppe behauptete, dass der Junge keinen Schatten habe.«
Silvia zog hörbar die Luft ein. »Dann ist er also als Stravagante entlarvt worden?«
Die Läden in Leonoras Salon waren geschlossen, damit die Sonne die Bezüge nicht ausbleichte. Rodolfo schritt eilig an ein Fenster und stieß sie auf.
»Er ist keiner mehr«, sagte er. »Sieh nur!«
Luciano stand auf und trat ans Fenster; sein Schatten hinter ihm fiel lang auf den gefliesten Boden. »Ich kann nicht mehr zurück, nicht wahr?«, sagte er.
Rodolfo legte dem Jungen einen Arm um die Schultern. »Nein«, sagte er. »Du bist jetzt ein Bellezzaner, Tag und Nacht. Dein Leben in der anderen Welt ist vorbei. Es ist ein bitteres Ende und ich werde es mir nie verzeihen.«
Lucien blinzelte heftig, um die Tränen zurückzuhalten. Das war also endgültig: Er war tot.
Ein Teil von ihm war entsetzt über diese Feststellung. Doch allmählich sagte ihm ein anderer Teil, dass er wenigstens hier in Bellezza am Leben war. Er hatte ja instinktiv gewusst, dass ihn der Krebs auch umgebracht hätte, wenn er in seiner Welt geblieben wäre, und er begriff, dass ihm ein zweite Chance gegeben war, für die die meisten Leute sogar einen Mord begehen würden. Er musste seine Gefühle für sein altes Leben und seine Eltern verdrängen, bis es sicher genug war, sie herauszulassen.
Doch jetzt gab es ein unmittelbares Problem: Die Tatsache, dass di Chimici und seine Leute einen wichtigen Schlüssel zu der Kunst der Stravaganza hatten.
»Aber das Buch, Meister«, sagte er. »Können wir es nicht wieder zurückstehlen?«
»Nicht nötig«, sagte Rodolfo mit schlauem Lächeln. »Ich glaube, Leonora hat es.«
Erstaunt stellte Lucien fest, wie Leonora ein Büchlein aus der Rocktasche zog, das ganz zweifellos seines war – sein Talisman!
»Aber wie ist das möglich? Der Spitzel von di Chimici hat es mir doch in der Nacht, in der sie mich entführt haben, aus der Tasche genommen«, sagte er.
»Nein, sie haben das Ersatzbuch genommen, das ich kurz nach dem Fest der Maddalena für dich gemacht habe«, sagte Rodolfo. »Damals begriff ich, in welcher Gefahr du schwebst. Du weißt doch, dass ich dich seither bat, immer in mein Laboratorium zu kommen, ehe du heimreisen wolltest. Ich habe die Bücher jedes Mal ausgetauscht.«
»Aber warum?«, wollte Lucien wissen. »Und wie?«
»Ich war sicher, dass sie versuchen würden dich zu entführen, um es dir abzunehmen«, erwiderte Rodolfo. »Es war nicht schwierig. Ich bekam ein neues Buch von Egidio und habe es ein bisschen in die Mangel genommen und in Wasser getaucht, damit es wie deines aussah. Dann habe ich die Notizen, die du gemacht hast, in deiner Handschrift hineingeschrieben, auch wenn ich sie nicht alle verstanden habe. Es war eine genaue Nachbildung.«
»Ich bin jedenfalls drauf reingefallen«, sagte Lucien bitter.
»Ich habe allerdings einen Fehler gemacht«, fuhr Rodolfo fort. »Ich hätte dir sagen sollen, was ich tat. Aber ich wollte dich nicht beunruhigen. Und du weißt, Luciano«, sagte er leise, »am Ende wäre dasselbe herausgekommen. Die di Chimici haben dich zu lange festgehalten. Nur wenn ich dein Versteck gefunden hätte, hätte ich dir helfen können nach Hause zu kommen.«
Alle sahen Lucien an und das Mitgefühl in ihren Blicken war mehr, als er ertragen konnte. »Sie haben Recht«, sagte er schroff. »Selbst wenn man mich nicht entführt hätte, wäre ich in meiner Welt gestorben. Aber ich kann nicht ertragen, dass ich mich nicht von meinen Eltern verabschieden konnte.«
»Ich weiß«, sagte Rodolfo. »Ich will versuchen das in Ordnung zu bringen. Aber es gibt noch etwas, um das ich mich vorher kümmern muss. Leonora, kann ich mich kurz mit Arianna allein unterhalten?«
Arianna folgte Rodolfo in den kleinen Garten wie eine Schlafwandlerin. Schon seit ein paar Minuten begriff sie nicht mehr, was um sie herum vor sich ging. Ihr Kopf war einfach zu voll angesichts all der
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