Stadt der Schuld
dann wirst du schnell merken, was du davon hast. Ich will es dir nicht raten!«
Mary bebte vor Furcht, am liebsten hätte sie sich in einem Mauseloch verkrochen. Oder besser doch, sobald sich die Gelegenheit bot, weglaufen? Zurück zu ihren Geschwistern und zu Cathy und Aaron, alles war besser als das hier! Sie konnte hier nicht bleiben!
Mrs Friwell schien ihre Gedanken im gleichen Augenblick zu erraten. Sie lachte hämisch. »Falls du jetzt womöglich erwägst abzuhauen, Kleine, vergiss es! Mr Ashworth hat für dich bezahlt. Läufst du fort, wird er das Geld zurückfordern und ich werde mir jeden Penny von dir zurückholen, das schwöre ich dir beim Grab meiner versoffenen Mutter. Gott hab sie selig! Glaub ja nicht, dass ich dich nicht finden würde. Ich werde dich auf alle Fälle kriegen. Ich habe meine Leute in der ganzen Stadt, und die haben noch jedes Mädchen, das mir entwischen wollte, aufgestöbert. Ist es nicht so, Edna?«
»Jawohl, Ma'am!«
»Und dann wirst du erfahren, was es heißt, sich mit mir anzulegen! Ich rate dir nicht dazu.«
Mary richtete sich zitternd auf. Noch immer quoll ihr das Blut aus der Nase und verwandelte das gebrochene Weiß des Leinenfetzens unaufhaltsam in leuchtendes, feuchtes Rot. Das Atmen fiel ihr schwer. Da lächelte Mrs Friwell plötzlich wieder, auf diese ganz geschäftsmäßige Art und Weise, die sie am Vorabend auch schon bei Mr Ashworth gezeigt hatte. Mary erkannte die gefährliche Entschlossenheit, die sich dahinter verbarg. Ihr Herz begann wild zu pochen.
»Ich denke, wir haben das nun ausreichend geklärt. Du gehst jetzt nach oben, kühlst dein Gesicht und wirst dich deiner Schönheitspflege widmen. Wir wollen doch, dass Mr Ashworth heute Abend zufrieden ist, nicht wahr, mein Täubchen?«
»Aber ich habe noch kein Kleid«, wagte Mary vorzubringen. Ihre Stimme klang seltsam nasal und auch die Lippen fühlten sich ganz taub und geschwollen an. Was würde Mr Ashworth sagen, wenn er sie so sah? Hatte diese Frau denn gar keine Angst, dass er sich deshalb beklagen würde? Vage Hoffnung keimte in Mary auf. Vielleicht hatte er ja dann doch ein Einsehen, dass es ein Fehler gewesen war, sie hierher zu verschleppen. Doch dann gestand sie sich ein, dass selbst sie nicht mehr an eine solche Wendung glaubte. Eher würde er sie fallen lassen und dann hatte sie umso mehr die bösartige Alte am Hals! Sie wollte gar nicht daran denken, was ihr dann blühte. Stattdessen tat sie wohl besser daran, die Spuren der Schläge so gut es irgend ging zu tilgen.
»Ein Kleid willst du?« Mrs Friwell lachte ihr meckerndes Lachen. Mary begann es schon jetzt zu hassen. »Das sollst du haben. Aber vergiss ja nicht, wer dafür zahlt und von wem du es bekommen hast. Klar?« Dann winkte sie Edna, die mit ausdrucksloser Miene dabeigestanden hatte, heran. »Du nimmst sie wieder mit nach oben. Zeig ihr, wie man sich schminkt und gib ihr eines der Kleider aus der Kammer.« Noch einmal ließ sie den Blick prüfend über Marys Gestalt wandern. »Ein Gelbes wird ihr sicher stehen. Ich denke, von Esther ist noch eines da, das dürfte ihr passen.« Dann ließ sie die beiden stehen, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen.
Edna packte Mary rasch am Arm: »Komm, bevor der Alten noch was anderes einfällt«, zischte sie. Mary stolperte, den inzwischen blutdurchtränkten Lappen immer noch gegen die Nase gepresst, hinter ihr her.
»Du brauchst nicht zu denken, dass sie persönlich was gegen dich hat«, erklärte ihr Edna im Flüsterton, als sie die Treppen zur ersten Galerie hinaufstiegen. »Das macht sie mit fast allen Neuen so. Gut, dich hat sie besonders hart rangenommen. Heather ist wirklich nicht ganz normal, wenn du mich fragst. Die Alte setzt sie sonst für besondere Kunden ein. Für diese verdrehten Kerle, die sich daran erregen, wenn man sie erniedrigt und quält. Bin froh, dass ich das nicht machen muss. Heather hat jedenfalls Spaß dran. Die Alte, glaub ich, auch.«
»Du hättest doch nicht erzählen müssen, dass ich mich gewehrt hab«, wagte Mary einzuwenden.
»Ach, das Veilchen hätte sie ja doch gesehen. Je eher du die Spielregeln lernst, desto besser. Außerdem hab ich keine Lust, mir auch noch eine Tracht Prügel oder Schlimmeres einzufangen. Die Alte führt hier ein harsches Regiment, das kannst du mir glauben. Wenn man nicht spurt, dann gibt's Saures und nicht zu knapp. Siehst du die Narbe hier?« Sie reckte ihr Kinn und offenbarte einen etwa eineinhalb Inch langen, wulstigen Grat. »Da
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