Stadt der Schuld
denn nicht gesagt, wo er hingehen wollte?« Cathy packte William, der eben müde und durchgefroren allein den kleinen Wohnraum betreten hatte, bei den Schultern. Der Knabe schüttelte den Kopf und schielte dabei sehnsüchtig in Richtung des Ofens, auf dem schon heiße Kartoffeln mit etwas dünner Brühe vom Vortag für die Heimkehrer bereitstanden. Wie hätte er erahnen können, welch enorme Panik seine Nachricht bei Cathy auslöste? Nicht nur, dass ihre Bemühungen um eine neue Arbeitsstelle bisher ohne Erfolg geblieben waren. Nicht minder erschöpft als William war sie kurz zuvor heimgekehrt, nachdem sie in vier der ortsansässigen Spinnereien und Webereien nachgefragt und man ihr unmissverständlich die Tür gewiesen hatte. Das war aber auch nicht weiter verwunderlich, besah man sich das Heer der Arbeitssuchenden in der Stadt. Erschauernd schlang sie die Arme um sich.
William, der, obwohl sein Interesse mittlerweile hauptsächlich der Suppe galt, nun doch zu bemerken schien, dass etwas mit seiner Pflegemutter nicht in Ordnung war, verkündete aufmunternd: »Du musst dir keine Sorgen machen, Cathy. Aaron ist bestimmt nicht mehr böse auf uns, das hat er mir heute Morgen selbst gesagt.«
Cathy strich ihm über den Kopf: »Nein, er ist nicht böse auf euch.« Dann lief sie plötzlich zurück zur Tür und griff nach ihrem regendurchweichten Schultertuch, das neben der Tür am Haken hing. »Debby? William? Ich muss noch einmal fort. Es tut mir leid! Ihr achtet auf Klein-Mary, nicht wahr?
Debby sprang vom Boden auf, auf dem sie selbstvergessen mit einigen losen Sisal-Fäden, die von einem alten Kartoffelsack stammten, verschlungene Muster geknüpft hatte. »Nein!«
Cathy presste die Lippen aufeinander. Sie wusste, dass das Mädchen nichts mehr fürchtete, als dass ihre letzte Beschützerin nun auch noch verschwand, aber sie konnte es nicht ändern. Wenn Aaron heute Abend zu den Chartisten gegangen war, dann musste sie ihn finden. Sie musste mit ihm sprechen, bevor er sie alle ins Unglück stürzte! Hastig verließ sie die Wohnung und rannte das dunkle Treppenhaus hinunter auf die Straße. Wo sollte sie ihn nur suchen? Während sie die vorbeihastenden Heimkehrer, die sich notdürftig gegen den eiskalten Regen zu schützen versuchten, inspizierte, ob sich nicht doch vielleicht Aaron unter ihnen befand, kam ihr mit einem Mal ein Gedanke.
Dean Wolsley! Der war doch bei den Chartisten und eigentlich kein schlechter Kerl. Aaron hatte ihn manches Mal erwähnt. Sie wusste, dass er in der Arbeitersiedlung nahe des Bridgewater-Kanals lebte. Dann musste sie sich eben dort nach ihm durchfragen.
Die Siedlung war noch um einiges schlechter dran als das eine halbe Wegstunde entfernte Wohnviertel, in dem sie selbst hausten. Cathy schüttelte sich und sah sich nervös um. Wie Geschwüre an einem pestverseuchten Körper breiteten sich die schlecht zusammengezimmerten Unterkünfte um einige heruntergekommene Steinhäuser aus, die vor vielen Jahren vielleicht einmal ansehnlich genannt worden sein mochten. Die windschiefen Gebäudeansammlungen wurden durchzogen von schmalen Straßenadern, die aufgeweicht und voller Schlamm waren. Der allgegenwärtige Dreck hielt aber einige derer, denen der Alkohol oder vielleicht auch Opium den letzten Rest Verstand schon geraubt hatten, nicht davon ab, sich genau dort zum Schlafen hinzulegen. Andere stiegen achtlos über die Gestrandeten hinweg, als handele es sich um menschlichen Unrat. Aus einer Kneipe die Straße hinauf tönte Lärm und Geschrei und eine Traube angetrunkener Männer stand davor. Immerhin machte wenigstens der Wirt in dieser Straße ein gutes Geschäft. Cathy drückte sich in den Halbschatten auf der anderen Straßenseite, um die Aufmerksamkeit der Zechenden nicht auf sich zu ziehen, als sie plötzlich mit jemandem zusammenstieß.
»Verzeihung«, murmelte sie.
Der Fremde packte sie am Arm. »Möcht erst sehen, wem ich hier verzeihe, bevor ich es tu!« Die Stimme des Mannes klang heiser und durchaus gefährlich. Cathy versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen. Nur fort hier! Doch die Pranke des Mannes hielt sie fest mit eisernem Griff.
Cathy nahm all ihren Mut zusammen. Kerlen wie diesen kam man nicht bei, indem man zimperlich war. »Lassen Sie mich auf der Stelle los, Mister!«, befahl sie harsch. Tatsächlich und zu ihrer eigenen Überraschung tat der Mann es wirklich. Sie nahm ihn näher in Augenschein. Er war groß und hager, ja geradezu dürr. Als ob nur Knochen in seinen
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