Stadt der Schuld
bewahren. Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt längst ein zutiefst unglückliches Geschöpf.«
»Und das trieb sie in die Arme eines anderen ...«, vermutete Havisham. Bis vor Kurzem hatten ihn Schicksale wie dieses bestenfalls mäßig interessiert, aber nun war es, als hätte die eisenharte Panzerung, mit der er sich so lange umgeben hatte, einen Riss bekommen. Der Panzer war nutzlos geworden.
»Auf Babington gab es einen Gutsverwalter, einen gewissenhaften und auch sensiblen Mann«, erzählte Meredith Baker stockend weiter, doch offenbar getrieben von dem Wunsch, sich ihm weiter anzuvertrauen. »Er war nicht sonderlich stattlich, aber sanftmütig, gebildet und hatte schöne grüne Augen. Dieser Gutsverwalter war es, der der jungen, verzweifelten und einsamen Mrs Goodfeather zunächst Trost gewährte und ihr später seine ehrliche Zuneigung und Liebe schenkte. Es stimmt: Meine Mutter hat die Ehe gebrochen, aber hatte ihr Ehemann das nicht schon vorher dutzendfach getan?«
Havisham schwieg. Ohne Zweifel war die Affäre von Mrs Goodfeather mit jenem Gutsverwalter nicht ohne Folgen geblieben. Seine bemerkenswerten Augen hatte er jedenfalls der Frau vermacht, die hier neben ihm saß und ihre Geschichte erzählte. Er ahnte bereits, was daraufhin über die junge Ehefrau hereingebrochen war. »Die Gesellschaft und auch das Gesetz kennt wenig Erbarmen mit untreuen Ehefrauen. Die Gründe interessieren selten«, wandte er leise ein.
»Oh ja! Das weiß ich allerdings nur zu gut. Nach meiner Geburt wurde das Verhältnis der beiden natürlich bekannt. Michael Goodfeather war groß und dunkelhaarig mit blauen Augen und ich besaß leider eine große Ähnlichkeit mit meinem leiblichen Vater. Der Schuldige war bald ausgemacht und wurde schon bald nach meiner Geburt mit Schimpf und Schande vom Herrenhaus vertrieben. Sir Geoffrey, außer sich vor Zorn, forderte unnachgiebig die Scheidung seines Sohnes von der Hure, wie er sich ausdrückte. Ohnehin hätte meine Mutter sich als völliger Fehlgriff und unfähig zum Führen einer guten Ehe herausgestellt. Sein Sohn hatte nichts dagegen. Er war froh, seine lästige Ehefrau auf diese Weise wieder loszuwerden und das noch mit dem Segen seines Vaters.« Meredith Baker hielt einen Augenblick inne, um ihrer Erregung Herr zu werden. Schließlich gelang es ihr und sie fuhr mit mühsam beherrschter Stimme fort: »Es dauerte nicht lang und die Ehe war geschieden. Sie wissen sicher, was das heißt! Die beiden Frauen, meine Mutter und meine Großmutter, mussten zurückkehren in das Haus meines Großvaters. Sie hatten keinen Cent und auch keinerlei Möglichkeit, finanzielle Unterstützung von irgendwelchen entfernten Verwandten zu erbitten. Der Skandal hatte sich bereits herumgesprochen. Um zu überleben, blieb ihnen nichts anderes übrig, als das ohnehin halb verfallene Haus mit dem dazugehörigen wenigen Land für einen Spottpreis zu verkaufen und in eine kleine billige Wohnung näher bei der Stadt zu ziehen. Sie versuchten sich, als ihre Mittel aufgebraucht waren, mit Näharbeiten über Wasser zu halten, aber das war schwierig. Niemand wollte etwas mit einer Ehebrecherin zu tun haben.«
»Aber ich verstehe nicht, warum sie sich nicht an ihren Geliebten und Vater ihres Kindes gewandt hat.«
»Oh, das hat sie. Sie hat nach ihm geforscht. Es dauerte einige Zeit, bis sie herausfand, dass er sich kurz nach seiner Entlassung von der Marine hatte anheuern lassen. Sein Schiff ging wenige Monate später unter und keiner hat das Unglück überlebt.«
»Oh, es tut mir leid, das zu hören!«
»Ja, ich bedauere es auch zutiefst. Ich hätte ihn gerne einmal kennengelernt. Das Einzige, was ich von ihm habe, sind ein paar Schreibhefte mit kleinen Aufzeichnungen und Notizen sowie einigen Zeichnungen. Er war ein recht begabter Maler, wissen Sie.« Sie seufzte ein wenig, fuhr dann aber tapfer fort: »Nun ja, um es kurz zu machen: Es war eine schwierige Zeit für uns. Meine Mutter versuchte in ihrer Not noch einige Jahre vergeblich, sich mit Sir Geoffrey auszusöhnen und ihn um finanzielle Unterstützung zu bitten. Aber er empfand nur Abscheu für sie und vor allem für mich. Ich glaube, er war zutiefst erzürnt darüber, dass ihm kein Stammhalter, sondern ein Kuckucksei ins Nest gelegt worden war und das konnte er vor allem mir nicht verzeihen. Das Verhalten seines Sohnes war ihm dabei völlig gleichgültig. Meine Großmutter hat den Skandal jedenfalls nicht lange überlebt. Sie starb noch im Herbst des
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