Stadt der Schuld
darauffolgenden Jahres voller Bitterkeit. Meine Mutter war auf sich allein gestellt, gerade neunzehn Jahre alt. Sie hat sich bemüht, aber letztlich konnte sie der Anfeindung und Not nichts mehr entgegensetzen. Sie nahm sich das Leben, als ich gerade zehn geworden war.«
»Und ließ Sie unversorgt zurück?«, fragte Havisham schockiert. Seine Empörung war aufrichtig. »Wie konnte sie so etwas tun? Sie muss offenbar doch eine Frau mit wenig Verantwortungsgefühl gewesen sein.«
»Sie dürfen nicht so über sie urteilen, Horace. Gewiss könnte man es so auslegen. Sie hat Fehler gemacht. Der größte davon war wohl, der Werbung von Michael Goodfeather nachzugeben. Aber Sie dürfen mir glauben, dass sie für diesen Fehler gesühnt hat an jedem Tag ihres restlichen Lebens. Zum Schluss war ihre Kraft einfach aufgebraucht, wissen Sie. Sie reichte nicht mehr, um noch weiterzugehen. Ich mache ihr keinen Vorwurf deshalb.«
»Aber was haben Sie dann getan? Sie hatten ja niemanden, an den Sie sich wenden konnten.«
»Nachdem meine Mutter ihre letzte Ruhe in einem Armengrab gefunden hatte, sagte man mir, dass ich mir Arbeit in der Stadt suchen solle, als Magd oder in den Webereien. Ich hatte keine Wahl. In unserem Ort wollte keiner etwas mit mir zu tun haben. Ich war die Tochter einer Selbstmörderin und obendrein unehelich geboren – ein lästiges Ärgernis in den Augen der Leute. Und so ging ich nach Trowbridge und begann, in den Fabriken dort um Arbeit nachzufragen. Schließlich kam ich auch in das Büro von Mr Baker, der damals noch selbst die Geschäfte führte, und bat ihn um Arbeit. Ich war sehr verzweifelt, da ich schon seit Tagen nichts mehr gegessen hatte. Ich glaube, ich tat ihm leid und er versprach, mich einzustellen. Und dann fragte er nach meinem Namen. Meine Mutter hatte ihren Mädchennamen nach der Scheidung wieder annehmen müssen und so trug auch ich ihren Namen. Als er diesen hörte, sprang er auf und fragte mich nach meiner Herkunft. Erst wollte ich es ihm nicht sagen, da ich Angst hatte, auch hier würde mein Makel zum Schaden für mich werden. Aber er hörte nicht auf zu fragen und so erzählte ich es ihm.«
»Und da nahm er Sie auf?«, fragte Havisham höchst erstaunt. »So scheint er in all den Jahren seiner ersten Liebe trotz allem treu geblieben zu sein.«
»Ja, das ist er. Er weinte so sehr, als er hörte, dass sie tot war und was geschehen war und dann nahm er mich mit zu sich nach Hause. Seitdem lebe ich dort, behandelt von ihm wie sein eigenes Kind! Und das, obwohl er doch allen Grund gehabt hätte, mich fortzujagen.«
»Ich verstehe«, sagte Havisham. Tatsächlich war ihm nun klar, warum Meredith Baker mit solch zärtlicher Dankbarkeit für ihren kranken Schwiegervater sorgte.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Tom trat in den Raum. Seinem Gesichtsausdruck war einen kurzen Moment lang Verwunderung anzusehen. Immerhin saß seine Herrin doch recht vertraut neben ihrem Gast, auch wenn Mr Havisham inzwischen ein häufiger und sehr geschätzter Besucher war. Doch dann gewann die Erinnerung an seine Dienstbotenpflicht wieder die Oberhand. Vielleicht auch angesichts der Ungezwungenheit, mit der sich Meredith Baker nun von ihrem Platz erhob.
»Was gibt es, Tom? Ist Mr Baker jetzt wieder wach?«
»Ja, er verlangt dringend nach Ihnen. Die Pflegerin hat gesagt, ich soll nach Ihnen schicken. Sie käme nicht allein zurecht.«
»Es ist gut, Tom. Ich werde gleich kommen.«
Dieser nickte und zog sich dann zurück. Meredith wandte sich mit einem entschuldigenden Lächeln zu Havisham um. »Die Pflegerin, Mrs Goddard, hat es wirklich nicht leicht. Mein Schwiegervater will eigentlich nur mich um sich haben und ist unleidlich zu ihr. Wollen Sie ihn noch aufsuchen?«
Havisham erhob sich. »Nein, es ist spät geworden und ich habe heute Abend noch eine Besprechung mit Green und den anderen. Sie wissen ja, wie das ist. Die Dinge sind immer wichtig und unaufschiebbar, man könnte meinen, es hängt das Wohl und Wehe der gesamten Welt davon ab. Nun, in gewisser Weise mag das sogar stimmen.«
»Ja, selbstverständlich. Das alles ist mir nur zu vertraut. Ich habe vollstes Verständnis.« Sie kam herüber und reichte Havisham zum Abschied die Hand. »Danke, dass Sie mir zugehört haben, Mr Havisham Horace.«
Sie lächelte. »Es tut gut zu wissen, dass wir in Ihnen einen treuen Freund haben.«
»Sie konnten Ihren Bericht ja nicht beenden, meine Liebe. Ich hätte Ihnen gerne noch weiter
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