Stadt der Schuld
vernehmlich und musterte missvergnügt den Nackten, der ohnmächtig zu ihren Füßen lag – inmitten eines umgestürzten Wandtisches und den Scherben eines Wasserkruges. Kein Zweifel, das war der Grund für das polternde Geräusch gewesen, das die Herrin und das halbe Haus zu dieser frühen Stunde aus dem Schlaf gerissen hatte. »Soll ich wieder den Arzt rufen lassen, Madam?«
Mrs Ashworth schüttelte den Kopf. »Nein, das wird nicht nötig sein, George. Mr Stanton ist nur schwach und verwirrt, kein Grund zur Beunruhigung. Leg ihn zurück auf das Bett und dann schicke eine der Mägde hinauf mit etwas Gin und einer Schüssel mit Wasser, das wird seine Lebensgeister schon wieder zurückbringen.«
»Sehr wohl, Madam!«
Es war nicht leicht, aber schließlich schaffte er es, den bewusstlosen Kranken wieder zurück auf das Bett zu hieven. Verstohlen ließ er dabei den Blick über dessen wohlgeformten Körper gleiten. Er selbst machte sich, wenn er ehrlich war, weit weniger aus Weibern als aus Männern. Eine Neigung, die er selbstverständlich sorgsam verbarg. Davon wusste nur einer der Gärtnerburschen, mit dem er sich zuweilen ein wenig vergnügte und ihm dafür ein paar Münzen zusteckte. Jedermann brauchte eben ein kleines Spielzeug. Eines war jedenfalls offensichtlich für ihn: Die sträflich vernachlässigte Ehefrau des Unternehmers Ashworth hatte sich mit diesem unterprivilegierten, aber ungewöhnlich gut aussehenden Mann aus dem Volke ein wahrhaft lohnendes Spielzeug gegönnt. Ha, von wegen selbstlose Hilfe! Das konnte sie vielleicht ihrer Freundin Mrs Fountley weismachen, aber nicht ihm. Er warf seiner Herrin von der Seite her einen spöttischen Blick zu. Sie war nur zu offensichtlich wild entschlossen, das Spielzeug auch bald zu benutzen. Der Blick, mit dem sie ihrerseits den Mann bedachte, der da nackt wie Gott ihn schuf ausgebreitet auf dem Bett lag, sprach Bände. George seufzte ein weiteres Mal an diesem Morgen. Die Herrin von Moston Park war wirklich zu beneiden, dieser Aaron Stanton war in der Tat eine Sünde wert. Aber vielleicht ergab sich ja die Gelegenheit und er selbst kam auch einmal zum Zuge. Welch überaus verlockender Gedanke ... Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen verließ er das Zimmer, um eine der Mägde mit dem Gewünschten zu beauftragen. Schade, dass er das nicht selbst erledigen durfte. Aber das Privileg, sich um ihren Gast zu kümmern, gebührte nun einmal der Herrin. Leider!
Aaron kam stöhnend wieder zu sich. Ein feuchtes Tuch lag auf seiner Stirn und in seiner Kehle brannte hochprozentiger Alkohol.
»Na also!« Mrs Ashworth, die neben ihm auf dem Bett saß, verzog das Gesicht zu einem zufriedenen Lächeln. »Wohin wolltest du denn mitten in der Nacht, mein Lieber? Es besteht keine Notwendigkeit aufzustehen, bis ich es dir erlaube. Noch bist du nicht so weit, das siehst du doch ein, nicht wahr?«
Aaron nahm all seine Kraft zusammen. »Ich will nicht hierbleiben!«
»Oh doch, das wirst du!«, gab sie herrisch zurück. »Warum wehrst du dich dagegen? Das ist doch für alle das Beste. Ich muss sagen, deine Frau war wesentlich einsichtiger als du. Ich hatte dich für klüger gehalten.«
Aaron starrte sie an. Erst jetzt dämmerte ihm der Sinn ihrer Worte. »Das kann ich nicht glauben!«
»Glaub es oder nicht. Du hast dich und deine Familie durch eigene Schuld in eine aussichtslose Lage gebracht und kannst dich deshalb mehr als glücklich schätzen, hierbleiben zu dürfen. Deine Frau war klug genug, dies zu erkennen. Außerdem hat sie durch meine Vermittlung eine Stelle als Lehrerin in Manchester bekommen und braucht dich sowieso nicht mehr. Vergiss sie also. Es nützt den deinen in der Tat weit mehr, wenn du dich von ihnen fernhältst. Je eher du das einsiehst, desto besser.«
»Cathy soll damit einverstanden gewesen sein ...?«, fragte Aaron stockend. Der Gedanke allein war ungeheuerlich! Es war ihm, als würde sich plötzlich ein Abgrund vor ihm auftun.
Mrs Ashworth lächelte kühl. »Selbstverständlich. Sie hat es sogar selbst vorgeschlagen. Aaron Stanton, glaubst du etwa, deine Frau legt noch Wert auf dich, nach all dem, was du in deiner Dummheit angerichtet hast? Du hast die Unfähigkeit, für deine Familie die notwendige Verantwortung zu tragen, schließlich mehr als deutlich unter Beweis gestellt.«
»Aber ich wollte das nicht! Ich wollte doch nur ... ach, verflucht, ich weiß es selbst nicht ...« Aaron stöhnte auf. Die Worte der Frau trafen ihn zutiefst, bohrten
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