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Stadt der Schuld

Stadt der Schuld

Titel: Stadt der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva-Ruth Landys
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verschrieben, sogar Mädchen lässt sie unterrichten.«
    »Was? Auch die Mädchen? Was sollte das für einen Sinn haben?« Mrs Bentley, eine der Besucherinnen aus Birmingham und ihres Zeichens einflussreiche Fabrikantenwitwe, schüttelte erstaunt das diademgeschmückte, ergraute Haupt. Ihr schlaffes Doppelkinn zitterte. »Auf was für Ideen man heutzutage kommt!«
    Mary-Ann witterte endlich ihre Chance, schon den ganzen Abend hatte sie gehofft, dass das Gespräch darauf gelenkt würde. Vielleicht konnten ja auch in Birmingham Mitstreiterinnen für weitere Schulen gefunden werden. Nun tat ihr Mrs Plummer – wenn auch eher gezwungenermaßen – den Gefallen. »Ich denke, es sind äußerst nützliche Ideen, Mrs Bentley. Sicher lädt Mrs Fountley Sie gerne einmal in die Schule zur Besichtigung ein. Sie werden sehen, dass das Lehrpersonal dort hervorragende Arbeit leistet. Besonders die Gattin von Mr Stanton.«
    »Dann ist die Ehefrau von Mrs Ashworths privatem Reitlehrer, von dem sie uns vorher berichtete, Lehrerin an dieser merkwürdigen Schule?« Mrs Bentley kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
    »Ja, so ist es«, verkündete Deodra Ashworth. »Eine äußerst glückliche Fügung, wohl wahr. Es schien geraume Zeit fast unmöglich, jemanden für diese ungewöhnliche Aufgabe zu finden. Aber Mrs Stanton verfügt, obwohl sie selbst aus der untersten Schicht stammt, zufällig über ausreichende Bildung für den Unterricht. Immerhin ist ja außer ein wenig Lesen, Schreiben und Kenntnissen in Hauswirtschaft auch nicht mehr gefragt.«
    »Wir hoffen«, hakte Mary-Ann nun rasch ein, »dass die Mädchen und natürlich vor allem die Jungen dadurch eine Chance auf eine besser bezahlte Anstellung bekommen. Darüber hinaus sollten sich durch die bessere Bildung auf längere Sicht Verelendung, Gewalt und Trunksucht unter den Arbeitern eindämmen lassen.«
    Mrs Bentley lächelte verwirrt. »Nun, wenn Sie das meinen, meine Liebe. Ich bin allerdings der Meinung, dass diese Schichten einfach von Natur aus zur Verwahrlosung neigen. Sie glauben nicht, welche Zustände in Birmingham herrschen und welche Brutalität, es ist schlichtweg schockierend, sage ich Ihnen.«
    »Das müsste nicht so sein, wenn die Leute ein angemessenes Auskommen und menschenwürdigen Raum zum Leben hätten!«, warf Godfrey, einer der jüngsten Männer in der Runde, ein. »Ein Anliegen, dem sich die League übrigens ebenso verschrieben hat. Deshalb sieht Mr Cobden die Anstrengungen meiner Frau in dieser Sache mit großem Wohlwollen.«
    »Ach, Mr Cobden ist also auch dieser Ansicht.« Mrs Bentley hob die Augenbrauen. »Ich muss sagen, dass mein verstorbener Mann den Zielen Mr Cobdens mit großem Interesse gegenüberstand. Auch mein Sohn, der die Geschäfte jetzt übernommen hat, engagiert sich, wie Sie sicher wissen, für die Bewegung.«
    »Wie wäre es denn also, wenn wir übermorgen einen Besuch in der Schule machen würden, Mrs Bentley? Es lohnt sich, das versichere ich Ihnen. Bestimmt schließen sich noch weitere Damen an. Ihre liebe Schwägerin möglicherweise ja auch«, schlug Mrs Plummer vor und zwinkerte verschwörerisch zu Mary-Ann hinüber, die dankbar zurücklächelte. Die Bekanntschaft mit Mrs Plummer hatte sich in der Vergangenheit wirklich ausgezahlt und tat es nun aufs Neue.
    Da bemerkte sie, dass Deodra noch eine Spur verstimmter an ihrem Weinglas nippte, als habe sie die Erwähnung von Cathy Stanton verärgert. Seltsam, außerdem hatte sie die überraschend abfällige Außerung ihrer Freundin über die junge Frau, die sie ihr doch selbst empfohlen hatte, durchaus erstaunt. Doch dann wischte Mary-Ann ihre Überlegungen beiseite. Bestimmt irrte sie sich. Sie sollte der Gastgeberin mehr Aufmerksamkeit zollen und nicht nur ihre eigenen Belange verfolgen. Es war schließlich kein Wunder, dass Deodra angesichts der häuslichen Misere nicht allzu guter Stimmung war. »Sie sehen wirklich fabelhaft aus, liebste Freundin«, sagte sie deshalb freundlich. »Die täglichen Ausritte, von denen Sie uns berichteten, scheinen Ihnen gutzutun.«
    Irritiert beobachtete Mary-Ann, wie für einen kleinen Moment ein fast anzügliches Lächeln über Deodras Gesicht huschte, dann antwortete diese: »Gewiss, das Reiten tut mir außerordentlich gut. Ich hätte es selbst nicht für möglich gehalten. In meiner Jugend war ich ja eine eifrige Reiterin, gab es aber auf, als ich meinen ersten Sohn unter dem Herzen trug. Seitdem bin ich nicht mehr auf einem Pferd gesessen, aber es

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