Stadt der Schuld
an?«, gab Aaron rüde zurück und beäugte sein Gegenüber misstrauisch. Es war Vorsicht geboten, vermutlich nahm dieser Kerl es nicht allzu genau mit Mein und Dein und schon gar nicht mit dem Wert eines Menschenlebens. Sein Eindruck trog ihn nicht. »Deine Schuhe würden mir sicher auch gut stehen«, sagte der Mann und deutete beiläufig mit einem plötzlich gezogenen Messer auf Aarons schlammbespritztes Schuhwerk. Verdammt, er hatte nicht einmal eine Waffe bei sich und außerdem war er viel zu erledigt, um sich auf einen Kampf einzulassen. Er musste irgendwie verhandeln, sonst würde der Kerl sich kurzerhand nehmen, was er so offensichtlich haben wollte. Vorsichtshalber setzte Aaron ein schräges Lächeln auf. »Ich mach dir 'nen Vorschlag, Mann. Hab das Zeug selbst von 'nem anderen, so 'nem feinen Gentleman, der besoffen auf der Straße herumlag«, log er drauflos. »Dachte, es wäre 'ne gute Idee, war's aber nicht. Die Schuhe drücken. Dir passen sie vielleicht besser. Wir können tauschen, wenn du magst.« Er deutete auf die Kleider des Mannes. »Deinen Mantel und deine Hose wären mir die Sachen schon wert, wenn's noch'n Schilling obendrauf gibt. Einverstanden?« Er streckte dem Mann auffordernd seine offene Handfläche hin. Der zögerte einen Augenblick, nickte dann aber und schlug ein. »In Ordnung, deine Sachen komplett gegen meinen Mantel, die Hose und einen halben Schilling. Mein altes Hemd kriegste auch noch dazu, aber den Hut und die Weste nich'. Klar?«
»Abgemacht, mir soll's recht sein.«
»Gut, komm mit. Wir können da drüben tauschen.« Der Mann winkte, ihm zu folgen. Aaron atmete vorsichtig durch. Das war noch einmal gut gegangen und nun bekam er sogar ein wenig Geld, um sich etwas zu essen zu kaufen. Sein Hunger war inzwischen übermächtig. Er folgte dem Mann zu einem leer stehenden Verschlag in einer der von der Straße abzweigenden Gassen. Rasch war die Kleidung getauscht. »Du bist mir noch den halben Schilling schuldig!«, forderte Aaron, während er sich dankbar in den wärmenden Mantel wickelte.
»Hm ...!« Der Kerl wippte unentschlossen in seinen neu erworbenen Schuhen auf und ab.
»Deal ist deal«, sagte Aaron drohend.
»Ach ja?« Der Mann grinste boshaft. »Ich könnte dich genauso gut aufschlitzen und mir alles nehmen. Was hindert mich daran?«
»Die Tatsache, dass ich dir vorher den Hals umdrehe, du Ratte«, zischte Aaron, machte einen raschen Ausfallschritt, packte den Mann von hinten an der Schulter und legte seinen Unterarm so fest um den kurzen Hals seines Widersachers, dass der augenblicklich zu keuchen begann.
»Is' ja schon gut, ich halt mich an die Abmachung.« Der Mann kramte fahrig in seiner Westentasche und förderte endlich einen ganzen Schilling zutage. Aaron griff danach. »Danke, den nehm' ich auch. Hast immer noch ein gutes Geschäft gemacht. Die Schuhe sind gut und gern ein Pfund wert und das weißt du.«
»Ja, verdammt. Lass mich los!«
Aaron tat es und lehnte sich an die Wand des Verschlags. Hoffentlich merkte der Kerl nicht, wie sehr seine Beine zitterten. Dieser kurze Schlagabtausch hatte ihn seiner letzten Kraft beraubt. Er setzte eine gleichgültige Miene auf. »Ich suche einen, der Liam heißt, ein Riesenkerl, nicht älter als dreißig, arbeitet bei den Dampfmaschinen von Ashworths Spinnerei. Kennst du ihn?«
»Liam ... hm, einen Liam?« Sein Gegenüber überlegte, plötzlich zeigte sich eine Art Erkennen in seinen Augen. »Liam Righley, meinst du den?«
Aaron nickte.
»Was willst du von ihm?« Seltsam, warum wirkte der Mann mit einem Mal so misstrauisch, geradezu als lauere er auf etwas.
»Nichts Besonderes. Hab mal mit ihm gearbeitet.«
»Ach ... wirklich? Ich weiß nicht genau, wo der wohnt. Irgendwo hinter der Schenke The Red Cock jedenfalls.« Der Mann ließ jetzt eine merkwürdige Unruhe erkennen, so als könne er nicht schnell genug davonkommen. »Am besten, du fragst dort noch mal. Muss weiter, Mann.«
Im nächsten Moment war er verschwunden. »He!«, rief Aaron hinter ihm her, zuckte dann aber mit den Schultern. Er war viel zu erschöpft, um länger über die plötzliche Eile dieses Kerls nachzudenken. Mit müdem Schritt machte er sich in die Richtung auf, die der Mann ihm gewiesen hatte.
Zwei Mal musste er sich ausruhen, nur um sich erneut aufzuraffen und weiterzuschleppen, bevor er das Holzschild mit dem flammend roten Hahn im Gewirr der Gassen ausmachte. Endlich! Er hatte schon befürchtet, er würde mitten auf der Straße
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