Stadt der Schuld
es ungeschehen zu machen, aber ich kann es nicht.«
Der Verwalter schwieg für einen langen Moment. »Aber Sir, wenn es wirklich so war, dann trifft Sie doch im Grunde keine Schuld an dieser Tat. Es ist wahr, Ihr Verhalten danach ist moralisch sicherlich auf das Schärfste zu verurteilen, aber Sie sind kein Mörder. Man hat Sie hereingelegt und Sie zu etwas verleitet, das Sie, wenn Sie bei Sinnen gewesen wären, gewiss nicht zugelassen hätten. Sie müssen kämpfen, Sir, Sie dürfen es nicht einfach hinnehmen, dass man Sie für diese Tat zur Rechenschaft zieht. Bedenken Sie, wie viele Menschen von Ihnen abhängen. Es geht nicht nur um Sie, Sir, Sie dürfen nicht aufgeben.«
Doch Horace Havisham antwortete nicht, er zeigte nicht einmal die geringste Reaktion.
Da stand Gruber auf und legte seinem Arbeitgeber die Hand auf die Schulter. Es musste ihm einfach gelingen, den Lebenswillen dieses verzweifelten Mannes wieder zu entfachen. »Sir, denken Sie doch auch ein wenig an Mrs Baker«, sagte er leise. »Ich glaube, Sie hegen große Zuneigung zu dieser Frau, ist es nicht so? Wollen Sie ihr noch mehr Schmerz zufügen, als sie ohnehin schon erdulden musste seit der Verurteilung ihres Mannes?«
»Nein, bei Gott! Nein!«, stöhnte Havisham und brach ganz plötzlich in Tränen aus. Er weinte wie ein Kind. Es dauerte geraume Zeit, bis er sich wieder einigermaßen fasste. Gruber wartete geduldig. Vielleicht war dieser heftige Gefühlsausbruch ja ein gutes Zeichen. »Kann ich etwas für Sie tun, Sir? Wollen Sie jetzt nicht doch einen Anwalt beauftragen?«, fragte er schließlich vorsichtig.
»Ich ...«, Havisham schnäuzte sich geräuschvoll in das Taschentuch, das Gruber ihm abgeboten hatte, »würden Sie Mrs Baker für mich aufsuchen?«
»Selbstverständlich, Sir.«
»Bitte sagen Sie ihr alles, was Sie wissen und fragen Sie sie, ob sie Hilfe braucht. Ich kann es nur zu gut verstehen, wenn sie nichts mehr mit mir zu tun haben will, aber vielleicht nimmt sie ja von Ihnen Hilfe an.«
»Ja, Sir, ... und der Anwalt? Bitte, denken Sie noch einmal darüber nach.«
»Ich weiß nicht, Gruber, tun Sie einfach, was Sie für richtig halten.«
Gruber sah seinem Arbeitgeber, der ihm gerade auf so bemerkenswerte Weise das Herz ausgeschüttet, ja seine finstersten Geheimnisse offenbart hatte, gerade in die Augen. »Das werde ich tun, Sir, ich verspreche es Ihnen.«
Kapitel 46
Manchester, Irenviertel, am späten Abend
Kapitel 46
Er wusste, dass er Fieber hatte. Der fast zwölfstündige Marsch zurück nach Manchester und das fernab jeden Weges hatte ihn völlig erschöpft. Außerdem trug er nichts als Hemd und Hose, nur das, was er bei seiner Flucht aus Moston Park angehabt hatte – zu wenig für die kühle Witterung. Aaron riss sich zusammen, er musste einfach durchhalten. Wenigstens hatte er es geschafft, glücklich am Kanal entlang in die Stadt zu gelangen, ohne dass ihn jemand angehalten hatte. Schmerz rumorte wild in seinem linken Lungenflügel, doch er achtete nicht darauf.
Liam hatte Aaron einst erzählt, dass er wie die meisten anderen seiner Landsleute in dem am meisten verwahrlosten Teil der Stadt zwischen den Ausläufern des geteilten Kanals hauste. Eine andere Unterkunft hatte der Hüne trotz aller Mühen für sich und die Seinen nicht gefunden. Das Gebiet war völlig überbevölkert. Wenigstens die Mieten waren, wie sollte es anders sein, spottbillig, aber selbst die konnten viele nicht bezahlen. Die meisten hausten in wackeligen Hütten, dürftig mit alten Lumpen abgedichteten Verhauen oder kampierten gleich auf der nackten Erde. Es stank erbärmlich nach Exkrementen, Unrat und fauligem Wasser. Die einzigen, die sich hier wirklich wohlzufühlen schienen, waren die allgegenwärtigen Ratten. So lächerlich es war, aber er fiel hier, obwohl seine Sachen inzwischen mehr als mitgenommen aussahen, schon dadurch auf, dass er Schuhe trug. Deodra hatte ihn ausstaffiert wie einen Pfau. Seine Reithose war aus feinstem Tuch und sein Hemd gar aus Damast. Kleidung, die eigentlich einem ihrer in London weilenden Söhne gehörte. Die Weste und Reitjacke dazu waren in dem verfluchten Stall geblieben, dort wo ... Hastig drängte Aaron den quälenden Gedanken an das Ge schehen wieder zurück. Nicht daran denken, nur nicht daran denken!
»He, was macht denn so ein feiner Pinkel wie du hier?«
Aaron fuhr herum. Der Mann, der ihn angesprochen hatte, wirkte verwahrlost und strahlte eindeutig Gefährlichkeit aus.
»Was geht's dich
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