Stadt der Schuld
Stellen hinein träufelte die Frau nun schnell, aber vorsichtig die Tinktur. Währenddessen ging de Burghs Stöhnen in ein langgezogenes leises Jammern über.
Armindale wandte sich mit verhaltenem Ekel ab. De Burgh war wirklich zu bedauern. Ein Wunder, dass er sich überhaupt noch bewegen konnte. Wenn schließlich die Lähmungen auftraten, das wusste auch Armindale, lief die Zeit für de Burgh unweigerlich ab. Er tat gut daran, sich mit seinen Nachforschungen zu sputen.
Mit einem gemurmelten Gruß verabschiedete er sich. Die Fortsetzung des Gesprächs war jetzt ohnehin unmöglich.
Unten auf der Straße kam ihm ein Gedanke. Vielleicht sollte er versuchen, an Mrs Havisham, de Burghs kapriziöse Tochter, heranzutreten. Möglicherweise war über sie das eine oder andere zu erfahren, wenn er es nur geschickt genug anstellte.
Kapitel 6
Manchester, Morgen des 24. Oktober 1840
Kapitel 6
Ruth?« Cathy klopfte noch einmal an die grobe Holztür. Leises Weinen war dahinter zu hören. »Ruth, nun mach doch endlich auf! Wie lange willst du dich denn noch verkriechen? Bitte, wir sollten miteinander reden. Wir finden bestimmt einen Weg für euch.« Unvermittelt ging die Tür tatsächlich auf. Der nun schon vertraute modrige Gestank schlug Cathy entgegen, zusammen mit einem Schwall feuchter Kälte. Der Morgen war unangenehm frostig, die Temperaturen waren in den letzten Tagen teilweise unter den Gefrierpunkt gesunken. Der Winter sandte seine Vorboten früh. Frierend zog Cathy ihr Schultertuch fester um sich und spähte in das dämmrige Dunkel. Es war der kleine William, der ihr geöffnet hatte. Von Ruth war nichts zu sehen. Nur die beiden älteren Mädchen kauerten nah aneinandergedrängt auf ihrer Bettstatt, die fadenscheinige Decke um sich geschlungen. »Wo ist eure Mutter, Kinder? Und wo sind die drei Kleinen?«, fragte Cathy einigermaßen alarmiert. Schon gestern war sie nach der Arbeit bei den McGillans vorbeigegangen, hatte aber niemanden angetroffen. Vier Tage war es her, dass man den Leichnam William McGillans, nur in ein Laken gehüllt, rüde in die große Grube auf dem Armenfriedhof geworfen und provisorisch mit einer dünnen Schicht Erde bedeckt hatte. Die nächste Leiche ließ ohnehin nicht lange auf sich warten. Da lohnte sich das Eingraben nicht nach Ansicht der zuständigen Behörde. Angesichts der unsäglichen Verzweiflung Ruths hatte Cathy es einfach nicht über sich gebracht, die Witwe noch am Grab mit Fragen über die Zukunft und das weitere Auskommen zu bedrängen. Aber es stand außer Zweifel, dass Ruth für sich und ihre Kinder dringend eine Lösung finden musste.Wer sich nicht selbst ernähren und auch keine Anstellung oder Verdienstmöglichkeit nachweisen konnte, landete auf kürzestem Wege im Armenhaus 15 . So schrieb es das gefürchtete Gesetz vor, das den großspurigen Titel Reform des Armenrechts trug. Strafe für Armut hätte es weit besser getroffen – die Behörden fackelten auch hier nicht lange. Deren harsches Einschreiten diente vor allem der Abschreckung von angeblich faulem Gesindel. Ein schrecklicher Verdacht beschlich Cathy. Hatte man Ruth womöglich schon mit den Kleinen abgeholt? Aber warum waren dann die drei anderen noch hier? Besorgt wandte sie sich an den Jungen, der abwartend an der Tür stand, und fragte noch einmal mit Nachdruck: »William, wo ist eure Mutter hingegangen? Und wo sind eure Geschwister?«
»Fort!«
»Fort? Was heißt fort?« Cathy nahm den Jungen bei der Schulter, doch der wehrte störrisch ihre Hand ab. Cathy sah, dass er nur mit Mühe seine Tränen zurückhielt, aber er hielt es offenbar für unter seiner Würde zu weinen, so wie es das jüngere der beiden Mädchen jetzt wieder tat.
»Fort eben!«
»Aber sie kommt doch bald wieder, oder?«
Williams Unterlippe begann nun doch verdächtig zu zittern. Furcht machte sich in Cathy breit. Hier war irgendetwas Schlimmes passiert. »William, du musst mir sagen, was los ist! Waren die Leute vom Arbeitshaus hier, oder hat der Hausverwalter deiner Mutter gedroht?
»Sie ist einfach weg! Sie kommt nicht mehr!« Der anklagende Ruf des älteren Mädchens hing dumpf in der feuchtkalten Luft.
»Sei still, Mary!«, zischte William. »Das braucht niemand zu wissen, sonst sperren sie uns gleich weg!«
»Das tun sie sowieso!«, höhnte seine ältere Schwester. Dann richtete sie ihren Blick trotzig auf Cathy. Auf ihren schmutzigen Wangen waren hellere Spuren von Tränen zu sehen, doch jetzt waren sie längst getrocknet.
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