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Stadt der Schuld

Stadt der Schuld

Titel: Stadt der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva-Ruth Landys
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schon den ganzen Vormittag zu kämpfen hatte.
    Er schlief kaum noch. Und wenn er in seinem Bett doch für einige kostbare Minuten einnickte, dann schreckte er nach kurzer Zeit, geplagt von Albträumen, in denen Schlangen und das alles verschlingende, lodernde Maul einer riesenhaften goldenen Götterstatue eine unrühmliche Rolle spielten, wieder auf. Er wehrte sich dagegen, aber es gelang ihm einfach nicht, die Träume von sich fernzuhalten. Im Grunde war er ein nervliches Wrack, gestand er sich ein. Vielleicht sollte er sich einige Zeit von der Verantwortung zurückziehen, einmal ausspannen – eine Reise nach Italien oder in die Schweiz machen? Das würde ihn bestimmt auf andere Gedanken bringen.
    Doch er wusste selbst, dass es nicht nur das Bedürfnis nach verdienter Ruhe war, das ihn plagte. Unversehens entwich ihm ein Stöhnen, obwohl er versuchte, es zu unterdrücken. Green sah indigniert zu ihm herüber. »Horace, geht es Ihnen nicht gut? Ich muss zugeben, Sie wirken in letzter Zeit ein wenig überarbeitet.«
    »Sir, wenn Sie sich nicht wohlfühlen, dann können wir unser Gespräch auch ein andermal fortsetzen, vielleicht in den nächsten Tagen, nicht wahr?«, meinte nun auch Gladstone freundlich. Seine großen, dunklen Augen unter den markanten Brauen blickten ihn besorgt an. Havisham beschloss, auf Gladstones Angebot einzugehen. Wahrscheinlich war es wirklich vernünftiger, sich zurückzuziehen und zu versuchen, ein wenig Ruhe zu finden – und sei es auch nur für ein paar Augenblicke.
    »Ja, ich fühle mich tatsächlich etwas unpässlich. Es wird besser sein, ich gehe nach Hause. Ich werde Ihnen eine Note zukommen lassen, wann wir unsere überaus interessante Unterredung fortsetzen können. Es tut mir wirklich leid, Gentlemen.«
    Er erhob sich rasch. Nur fort aus diesem Raum, diesem Gebäude, das immer mehr seiner Lebensenergie in sich aufsog. Wieso um alles in der Welt war er nur so erpicht auf diesen verfluchten Sitz im Unterhaus gewesen?
    Draußen vor dem Portal stürzte ihm sofort ein Kutscher entgegen, doch Havisham winkte ab. Er hatte das Bedürfnis, ein Stück zu Fuß zu gehen, um seine umherirrenden Gedanken zu ordnen. Nach kurzem Überlegen ging er über den Hof, vorbei an der Baustelle des Westminster Palace, an dem seit Ende April eifrig gebaut wurde.Gott sei Dank hatten sich die verfeindeten Parteien über die Frage des Neubaus nach dem Brand 22 endlich einigen können und man hatte mit dem Wiederaufbau begonnen. Aber so wie es aussah, würde sich das Parlament noch einige Jahre mit den Ausweichquartieren begnügen müssen. Das war mühselig, aber leider unumgänglich. Das Hämmern und die Rufe der arbeitenden Männer gellten Havisham in den Ohren und er beeilte sich weiterzukommen. Eigentlich hatte er bei Charings Cross eine Droschke nehmen wollen, doch dann besann er sich eines Besseren. Einem plötzlichen Entschluss folgend, wandte er sich nach Westen in Richtung des St. James Park. Etwas Grün und Ruhe vom Trubel der verstopften Straßen würden ihm sicher helfen, sich zu sammeln. Er beschloss, ein wenig am Ufer des dort neu angelegten Sees entlangzugehen und sich anschließend im Kaffeehaus am Rande des Parks zu erfrischen. Nach Hause zog es ihn beileibe nicht. Dort würde er womöglich Isobel begegnen und das war das Letzte, was er wollte. Allein der Gedanke an sie ließ eine erneute Welle des Unbehagens in ihm aufsteigen. Er schluckte und versuchte, die unangenehme Empfindung in sich niederzukämpfen. So konnte es nicht weitergehen! Irgendetwas musste er tun, um wieder Herr seiner selbst zu werden. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass sein Selbstvertrauen in diesem Maße ins Wanken kommen könnte. Nicht einmal, als ihm endlich bewusst geworden war, auf was für eine Teufelei er sich da mehr oder weniger unwillentlich eingelassen hatte – damals in jener Nacht in Portsmouth. Wieder stieg Angst in ihm auf und sein Puls beschleunigte sich. Damals hatte er sich eingeredet, er könne diese Sache von sich wegschieben, irgendwo vergraben und den angerichteten Schaden in einen Vorteil zu seinen Gunsten verkehren. Zunächst war ihm das ja auch gelungen, aber nun holten ihn die Schatten der Vergangenheit ein. Er ließ seinen Blick über die ruhige, graublaue Oberfläche des künstlichen Gewässers gleiten.
    Ob er sich der Polizei stellen sollte?
    Havisham keuchte erschrocken auf. Was für ein Gedanke! Es fiel ihm plötzlich schwer, Luft zu bekommen. Ein flanierendes Paar warf ihm einen

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