Stadt der Schuld
beunruhigten Blick zu und er beeilte sich, wieder die respektable Haltung einzunehmen, die von einem Gentleman und Abgeordneten des Unterhauses erwartet werden durfte. Dann ging er raschen Schrittes in Richtung seines bevorzugten Kaffeehauses davon. Er brauchte etwas Warmes im Magen, das würde ihn sicher beruhigen. Vielleicht auch etwas Stärkeres. Ein Sherry würde ihm guttun!
***
»Guten Tag, Sir! Ihr üblicher Tisch, Sir?«, begrüßte ihn der in eine ordentliche Livree gekleidete Maitre des Hauses zuvorkommend, als Havisham etwas abgehetzt das hauptsächlich von den gehobenen Schichten Londons und Abgeordneten des Parlaments besuchte, noble Kaffeehaus betrat. Havisham nickte dankbar. Man kannte ihn hier und würde ihn nicht zu einem Gespräch nötigen. Hierher zog er sich zurück, wenn er nachdenken wollte. Zu Hause gelang ihm das seit geraumer Zeit nur noch unzureichend.
Ungeduldig wartete er auf den Sherry, den er schon beim Eintreten bestellt hatte, und stürzte diesen, als er ihm von einem der Bediensteten serviert wurde, ohne zu zögern hinunter. Etwas ruhiger bestellte er sich einen zweiten und ein Kaffeegedeck dazu. Er achtete nicht darauf, als der Mann sich leise entfernte. Das Zittern seiner Hände machte ihn wahnsinnig. Sich der Polizei stellen! War er denn verrückt geworden? Hängen würde man ihn, das war so sicher wie das Amen in der Kirche! Wer sollte ihm denn glauben, dass er unter Drogen stand, als er den Mord an Daniel de Burgh in Auftrag gegeben hatte? Dieser Inder und seine schöne Hure hatten ihn aufs Kreuz gelegt wie einen Anfänger. Aber konnte er das zur Verteidigung vorbringen? Außerdem sprach sein Verhalten gegen ihn. Schließlich hatte er kurz darauf de Burghs Tochter geheiratet und den Alten von seinem eigenen Besitz vertrieben. Damals hatte er sich erfolgreich und kalten Herzens eingeredet, es sei sein gutes Recht, er hätte es schließlich verdient. Doch nun wusste er es besser, wusste, was er in Wirklichkeit war ... ein gewissenloses Schwein!
»Mr Havisham, Horace, darf ich mich zu Ihnen setzen?« Ohne seine Antwort abzuwarten, zog Meredith Baker den zweiten Stuhl an seinem Tisch nach hinten und setzte sich. Entgeistert starrte Havisham sie an. Er hatte sie gar nicht bemerkt, als er eingetreten war ... oder war sie gerade erst gekommen?
»Mer... Meredith!«, stammelte er heiser und verschluckte sich fast. Er war so verblüfft, dass er es sogar versäumte höflich aufzustehen, als sie sich setzte.
»Nein, lassen Sie!«, sagte sie rasch, als er dies umgehend nachholen wollte, und legte ihre Hand auf seinen Arm, um ihn daran zu hindern. Die Wärme ihrer Berührung durchglühte ihn wie eine lodernde Flamme. Unstet wanderte sein Blick zwischen ihrer Hand und ihrem Lächeln hin und her, um sich dann schließlich einmal mehr in ihren Augen zu verfangen.
»Sie sind überrascht, mich hier anzutreffen, nicht wahr?«, begann sie das Gespräch. Er nickte stumm, zu aufgewühlt, um wohlgesetzte Worte zu finden.
»Ich verabrede mich hier hin und wieder mit Rupert«, erklärte sie, noch bevor er fragen konnte. Abgesehen davon hätte er es auch kaum gewagt. »Er kommt selten nach Hause, wie Sie wissen. Er möchte seinen Vater nicht aufregen, sagt er, aber ich glaube, er scheut sich vor unserem Haus.«
Havisham sah sie fragend an. Seit jenem vertraulichen Gespräch hatten sie sich nicht wiedergesehen. Doch jetzt war es fast, als wären seither nur wenige Minuten vergangen. Ihre Lebendigkeit umhüllte ihn – ließ ihn für den Augenblick vergessen, was ihn bedrängte.
»Ich hatte Ihnen ja versprochen, dass wir unser Gespräch von neulich noch fortsetzen«, sagte sie zögernd, doch dann sah sie ihn forschend an, »aber das scheint mir gerade alles andere als Ihre Sorge zu sein. Geht es Ihnen gut, Horace? Ich mache mir Sorgen um Sie, wissen Sie ...«
»Um mich ...?«, fragte er, wenig geistreich. Aber um geistreich zu sein, fehlte ihm gerade die Kraft. »Das müssen Sie nicht, Meredith. Warum sollten Sie auch?«
»Weil ...«, sie senkte kurz den Blick, bevor sie ihn wieder direkt ansah, »weil mir Ihr Wohl nicht gleichgültig ist, Horace. Ich sehe doch, dass Sie etwas quält. Ich spüre es seit Langem. Wollen Sie sich mir nicht anvertrauen?«
Plötzlich schossen ihm Tränen in die Augen. Beschämt wandte er sich ab und entzog ihr seine Hand. Das Mitleid, mit dem sie ihn ansah, spürte er fast körperlich.
»Sie sollten das nicht tun, Meredith!«, sagte er leise. Eine jähe Panik
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