Stadt der Schuld
werden.
Mit unsicheren Händen arbeitete sich Mary nun die Reihe der tanzenden Garnspulen entlang. Zwei Mal musste Cathy schnell eingreifen, weil ihrem Schützling einer der vier breiteren Garnstränge entglitten war, die jeweils durch den Frame zu einem festeren einzelnen Strang verdreht wurden.Da bemerkte sie plötzlich, dass Eliza es versäumt hatte, rechtzeitig von der anderen Seite die schweren großen Garnspulen aufzusetzen, die von den Drawing Frames 19 herübergeschoben worden waren. Zu dumm! Wo blieb Eliza nur? Mr Bole würde sicher wieder schreien, wenn sie die Maschine vom Band nehmen musste. Seit Emmys Unfall war er nahezu unausstehlich. Und gerade heute wollte Cathy ihn keinesfalls reizen. Sie tippte Mary leicht an die Schulter und bedeutete ihr, dass sie weitermachen sollte. Das Mädchen schüttelte ängstlich den Kopf, doch für den Augenblick würde sie es wohl allein hinbekommen. Cathy lief schnell auf die andere Seite der gewaltigen Maschine und begann hastig, die bereits bereitstehenden schweren Rollen auszutauschen. Eile war geboten, die Maschine wartete nicht. Schweiß lief Cathy über den Rücken und nässte ihr Kleid. Vor Anstrengung hielt sie den Atem an, als sie schließlich das letzte der gewaltigen Garnknäuel auf den wartenden stählernen Zinken aufsetzte. Plötzlich durchfuhr sie erneut jäher Schmerz, die Wehen setzten wieder ein – deutlich heftiger als vorhin. Hilflos stöhnte sie auf und taumelte nach vorne. Es tat so schrecklich weh! Wieso tat es denn nur so weh? Das durfte nicht sein! Schwärze – ihre Knie sackten weg. Plötzlich spürte sie, wie etwas unbarmherzig an ihrem linken Arm zerrte und ihn verdrehte. Ein grässliches Knacken. Sie hörte sich schreien, aber es klang, als käme es von einer anderen Frau. Auf einmal war ihr Arm wieder frei. Sie stürzte zu Boden, alles drehte sich. Dann Stimmen, aufgeregtes Rufen, verschwommene Gesichter, die über ihr tanzten – und die Maschine war merkwürdig still. Ihr unaufhörliches Rattern war jäh verstummt. Cathy bemühte sich die Augen offen zu halten, doch es gelang ihr nicht. Ihr Arm und ihre Schulter taten höllisch weh und wieder grub sich Schmerz mit brüllender Heftigkeit in ihren Unterleib ... Bole, der irgendetwas schrie ... es war ihr gleichgültig. Sie versuchte, flach zu atmen. Seltsam – ihr Arm fühlte sich ganz nass an.
»Aaron!« flüsterte sie matt. »Holt meinen Mann ... bitte!« Dann verlor sie das Bewusstsein.
»Was hat das hier zu bedeuten? Ich hoffe, es hat nicht schon wieder einen Unfall gegeben! Bole?« Mr Ashworths empörte Stimme bahnte sich ihren Weg durch die Traube aus Leibern, die sich um die am Boden Liegende gebildet hatte. Sein dröhnender Bariton ließ die Arbeiterinnen erschrocken zurückweichen. Der neben der Verletzten kniende Vorarbeiter sah verunsichert auf. Das zweite Unglück innerhalb kurzer Zeit warf beileibe kein gutes Licht auf ihn. Womöglich dachte Mr Ashworth jetzt, dass er mit der Aufsicht über die Arbeiterinnen und Maschinen des Carding Rooms überfordert war. Eine Welle des Ärgers überspülte ihn. Am liebsten hätte er dieser ungeschickten Rothaarigen einen Tritt versetzt, als er sich schnell aufrichtete, um seinem Arbeitgeber Rede und Antwort zu stehen. Warum musste sie ausgerechnet jetzt mit dem Arm in den Speed Frame geraten? Sie hatte sich doch sonst nicht so dumm angestellt!
»Sir, ich weiß auch nicht, was passiert ist, aber es ist sicher nicht so schlimm. Nur eine unbedeutende Verletzung«, sagte er und bemühte sich, das nervöse Schwanken seiner Stimme zu unterdrücken. Es gelang ihm alles andere als zufriedenstellend. Ashworth hatte ihn seit dem tödlichen Arbeitsunfall vor vier Monaten ohnehin auf die Abschussliste gesetzt. Bole erinnerte sich nur zu gut an die drohenden Worte, die im Büro des Unternehmers gefallen waren. Auch wenn in allen Fabriken der Stadt Unfälle an der Tagesordnung waren, war keiner der Unternehmer darauf erpicht, eine einschlägige Erwähnung in der Manchester Press zu finden.Und tatsächlich hatte der Tod Emmy Warricks darüber hinaus lästigerweise sogar in der Edinburgh Review 20 gestanden, wo gleichzeitig die schlechten Lebensbedingungen der Arbeiter in den Industriestädten angemahnt wurden. Ashworths Spinnerei in Manchester wurde in dem Artikel anlässlich des schrecklichen Endes der Arbeiterin nicht eben als bestes Beispiel moderner Produktionsverhältnisse hingestellt. Natürlich war die Fabrik nicht schlechter oder besser als
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