Stadt der Schuld
besser bezahlten Posten zu ergattern. Selbstverständlich hatte er gleich am Tag nach der Geburt der kleinen Mary mit Wheaton, dem Verantwortlichen für den Baumwolltransport, gesprochen und der hatte ihm auch versichert, sich für ihn einzusetzen, in den nächsten Tagen schon, aber seitdem hatte Aaron nichts mehr gehört. Es blieb ihm nichts als abzuwarten.
»N'Morg'n«, knurrte Tom und spuckte einen Schwung bräunlicher Masse auf den Boden. Die Überreste des billigen Kautabaks, den er sich so oft es ging genehmigte. Dann grinste er dreckig: »Na, Stanton, wieder mal keine ruhige Nacht gehabt? Tja, ich sag's dir ja, die Bälger rauben dir den Verstand. Brüllen und wimmern immerzu, und wenn sie mal ruhig sind, dann fressen sie dir zur Abwechslung die Haare vom Kopf. Man fragt sich, warum die Weiber immerzu Junge werfen müssen. Lästig! Habe meiner Alten ordentlich eins drübergegeben, als sie kürzlich schon wieder schwanger wurde.«
Aaron zog sich seinen Kittel über, den er bei der Arbeit trug, um den Körper wenigstens ein bisschen vor den Baumwollfasern zu schützen. Doch das Zeug war überall und kroch in jede noch so kleine Hautfalte. Der Juckreiz war fast unerträglich. »Vielleicht solltest du besser auf deinen Schwanz aufpassen, als deine Frau zu verprügeln!«, sagte er erbost. Er hasste diesen Kerl.
»Ho, das sagt ja gerade der Richtige!«, höhnte Tom und entblößte kichernd seine fauligen Zähne. »Bei deiner hübschen Fresse vögelst du doch bestimmt herum, was das Zeug hält. Bei dir zahlen die Nutten ja noch, damit sie mal ran dürfen, stimmt's oder hab ich recht?«
Unversehens hatte Aaron ihn hart beim Kragen gepackt: »Halt endlich dein loses Maul, Tom Clarke, oder du wirst mich kennenlernen. Ich hab genug von dir und deinem Geschwätz.«
»Pah!« Der Mann, verärgert, aber durchaus eingeschüchtert, bemühte sich ihn abzuschütteln. Eine alkoholgeschwängerte Wolke stinkenden Atems schlug Aaron entgegen. Für einen Moment schob sich der Schemen eines anderen Gesichts vor die ungewaschenen und schlecht rasierten Züge seines Spannmanns. Ein Männergesicht, das er nur zu gut kannte, und das er so gern aus seiner Erinnerung verdrängt hätte. Rasch ließ Aaron den Mann los und wandte sich ab. Seine Hände zitterten.
Tom hatte indessen, als wäre nichts geschehen, zu einem Stielhaken gegriffen und schlurfte hinüber zu O'Brian. Der irische Tagelöhner schätzte sich glücklich, inzwischen anstelle von William McGillan eingestellt worden zu sein und war eifrig damit beschäftigt, die Pressballen mit einem ebensolchen Haken auseinanderzuschieben. Die Quader mussten vor den Hopper Feeder geschleift und von ihrer engen Leinenumwickelung befreit werden. Eine furchtbare Plackerei, die weiß Gott dreier kräftiger Männer bedurfte. »Jetzt komm schon, Stanton!«, brüllte Tom über den Maschinenlärm hinweg. »Oder braucht der Herr eine Einladung?«
***
Marys Blick wanderte immer wieder zu der Treppe, die Mr Ashworth in den letzten Tagen öfter heraufgekommen war, um zunächst einen Blick auf den Fortgang der Arbeit im Carding Room zu werfen, ein paar harsche Worte an Bole zu richten, der daraufhin die schuftenden Frauen zusammenstauchte – unabhängig davon, ob es gerechtfertigt war oder nicht –, und schließlich zu ihr herüberzukommen. Sie hatte auf seine Veranlassung hin die begehrte Stelle am Speed Frame, Cathys Arbeitsplatz, bekommen, obwohl sie neu in der Fabrik war. Das hatte bei den anderen Arbeiterinnen einigen Unmut hervorgerufen. Besonders Eliza, dieses boshafte Weib, hatte sie ins Visier genommen, aber das kümmerte Mary nicht. Sie wusste sich zu wehren. Sie hatte sich auch schon früher bei Auseinandersetzungen mit den anderen Arbeiterkindern auf der Straße nicht unterkriegen lassen. Und sie hätte es bestimmt auch geschafft, sich selbst, William und Debby zu versorgen, wenn die beiden sich nicht so dumm angestellt hätten. William mit seinen blöden Geschichten von Leuten, die beim Klauen erwischt und deportiert worden waren, hatte Debby so in Angst und Schrecken versetzt, dass die nur noch heulte und zu nichts mehr zu gebrauchen war. Dann hatten die beiden sich gegen sie verbündet und ihren Plan boykottiert, sich einfach in aller Herrgottsfrühe auf dem Markt, wenn die Händler ihre Stände aufbauten und abgelenkt waren, zu nehmen, was sie brauchten. Und dann war diese Cathy aufgetaucht!
Mary war es alles andere als recht, dass sie nun bei den Stantons wohnten, aber sie hatte
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