Stadt der Schuld
plötzlich nichts mehr von ihr wollte, warum er sich ihr so entzog. Das würde ihm so passen! Und das, nachdem er sich in dieser Weise an ihr, an ihrem Körper, schadlos gehalten hatte! Hatte er nicht alles bekommen? Schließlich war er nun auch noch ganz offiziell Herr über Whitefell, den schönsten Landsitz Wiltshires, und das nur, weil sie geruht hatte, in die Ehe mit ihm einzuwilligen – in eine Ehe mit einem Mann gewöhnlicher Herkunft! Wie konnte er es nur wagen!
Kochend vor Zorn bestieg sie die Kutsche und befahl dem triefnassen Kutscher, unverzüglich zur Wohnung ihres Vaters zurückzukehren.
Kapitel 24
Kapitel 24
Isobel, es tut mir so leid!« Havisham, der wenige Minuten vor ihr eingetroffen war, kam ihr schon an der Tür zum Sterbezimmer ihres Vaters entgegen. Er wirkte übermäßig bleich. Doch Isobel vermied es, ihm länger ins Gesicht zu sehen. Unwillig ließ sie den Begrüßungskuss, den er ihr – ungewöhnlich genug – auf die Wange hauchte, über sich ergehen. Dieser Pharisäer sollte bloß die Finger von ihr lassen! Stumm setzte sie sich auf den Stuhl, der zur Rechten des inzwischen von der Haushälterin angemessen aufgebahrten Leichnams ihres Vaters aufgestellt worden war, und würdigte Havisham keines Blickes. Oh, wie es in ihr kochte! Aber ihr war auf der Rückfahrt rasch klar geworden, dass es dumm wäre, ihn zur Rede zu stellen. Nein! Ihre Rache musste ganz anders aussehen. Horace Havisham sollte noch den Tag verfluchen, an dem er um ihre Hand angehalten hatte! Und sie hatte auch schon einen Plan ...
Havisham trat zu ihr. »Hat er sehr gelitten?«, fragte er teilnahmsvoll. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, die Ärzte hatten ihm sehr viel Morphium gegeben. Er ist gar nicht mehr zu Bewusstsein gekommen.«
»Ah. Ich frage mich ...« Havisham räusperte sich leise. »Was?« Unwirsch wendete sie sich ihm zu.
Er starrte sie an. Wieder fiel ihr auf, wie blass er war. Kaum ein Unterschied zu dem Leichnam vor ihr auf dem Bett. »Ich hätte ihn nicht einfach von Whitefell vertreiben dürfen. Vielleicht könnte er noch leben, wenn er dort hätte bleiben können, weiter Herr seiner Güter hätte sein können.«
»Ja, vielleicht ...«, antwortete sie gedehnt und musterte ihren Gatten kühl. »Sehr zartfühlend war das jedenfalls nicht!«
Er senkte geradezu schuldbewusst den Blick. »Es erschien mir damals richtig zu sein. Von Jugend auf hat man mich gelehrt, dass nur der erfolgreich ist, der den eigenen Vorteil klar im Blick behält. Schließlich handelt doch ein jeder danach!«
Sie lachte spöttisch auf. »Zweifellos warst du ja ein sehr gelehriger Schüler!«
Es schien, als nähme er ihre beißende Häme nur von Ferne wahr. »Ja, zweifellos ...« Seine Stimme versiegte. Doch dann ermannte er sich. »Jedenfalls soll dein Vater seine letzte Ruhe auf Whitefell finden. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass das umgehend und mit allen Ehren in die Wege geleitet wird.«
»Nun, davon bin ich selbstverständlich ausgegangen«, sagte Isobel. Etwas fiel ihr ein. Der Augenblick war günstig, gleich noch die Sache mit Blidge anzusprechen. »Übrigens bin ich heute durch deinen Kammerdiener in eine unangenehme Situation gebracht worden«, begann sie.
»Durch Blidge?«, fragte Havisham erstaunt.
»Ja, Blidge! Überhaupt benimmt sich das Personal unerträglich aufsässig in letzter Zeit. Wenn das so weitergeht, verlange ich, dass einige von ihnen entlassen werden. Du lässt die Zügel im Hause viel zu sehr schleifen. Ich werde mir das jedoch nicht weiter bieten lassen.«
»Was ist denn geschehen?«
»Nichts! Ich habe lediglich in deinem Arbeitszimmer nach einem Testament meines Vaters gesucht. Blidge kam ins Zimmer und stellte mich buchstäblich zur Rede. Was erlaubt er sich? Ich habe mich gefühlt wie eine Verbrecherin, dabei ist es schließlich mein gutes Recht!«
»Du hast meine Unterlagen durchsucht?«, fragte Havisham scharf.
»Und? Was ist dabei? Schließlich konnte ich dich nicht fragen. Du warst ja außer Haus und auch sonst entziehst du dich mir, wo du kannst.«
Er ging auf den Vorwurf angesichts der Ungeheuerlichkeit des Vorgangs nicht ein. Isobel spürte ihre innere Anspannung. Jetzt nur nicht nachgeben. Je forscher sie auftrat, desto eher würde er die Lüge glauben.
»Aber das hätte doch wirklich warten können, Isobel! Selbstverständlich gibt es ein Testament, dessen Inhalt mir auch bekannt ist. Aber es ist auf Whitefell hinterlegt.«
»Ich finde, ich habe ein Recht
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