Stadt der Schuld
einem Küstendorf nahe Southampton.
Armindale ließ sich dennoch auf dem Schreibtischsessel nieder und begann zunächst die Briefe näher zu inspizieren. Es war, wie er vermutet hatte: Die Briefe waren alle von Meredith Baker geschrieben. Sie datierten seit Sommer letzten Jahres. Dauerte das Verhältnis der beiden etwa schon so lange? Neugierig begann er zu lesen, doch zu seinem Unmut fand sich nichts Verwertbares, nicht einmal Pikantes. Schilderungen des Zustands des alten Bakers wechselten ab mit freundlichen und verbindlichen Dankesworten für Havisham ob dessen ungebrochener Anteilnahme am Geschehen im Hause Baker. Ah! Aus dem nächsten Schreiben ging hervor, dass Havisham sich offenbar noch im Sommer in Bakers Unternehmen eingekauft hatte, und es seitdem auch für die Bakers wieder finanziell bergauf ging. Havisham war eben einfach ein ärgerlich geschickter Geschäftsmann. Achtlos überflog Armindale die übrigen Briefe und warf sie schließlich enttäuscht auf den Tisch. Nichts!
Da fiel sein Blick auf ein Schreiben, dass er übersehen hatte und das nun aus dem Stapel herausgerutscht war – offenbar von Havisham selbst geschrieben. Er kannte dessen Handschrift.
28. Oktober 1840
Teuerste Meredith,
seit Tagen ringe ich mit mir und weiß nicht mehr ein noch aus. Mein Herz ist schwer, wenn ich daran denke, dass ich Ihnen Leid zufügte, ohne es zu wollen. Wenn ich es doch nur ungeschehen machen könnte! Ach, ich wollte, ich könnte so vieles ungeschehen machen ...
Seien Sie versichert: Nicht Sie sind es, die ich ablehne – wie könnte ich? Sie sind ein wahrer Engel, Meredith! Nie begegnete mir ein Mensch, der gütiger, weiser, liebevoller gewesen wäre, als Sie es sind. Ich kann meiner Hochachtung, meiner aufrichtigen Verehrung für Sie nicht genug Ausdruck verleihen! Bitte glauben Sie mir. Nein, ich selbst bin es, den ich zutiefst verabscheue, dessen Schlechtigkeit ich fürchte ...
Nun, das klang interessant. Havisham war gewiss ein Fuchs, der mit allen Wassern gewaschen war – doch hier klagte er sich selbst an in einer Weise, die er ihm nie und nimmer zugetraut hätte. Armindale beugte sich gespannt nach vorne und las weiter.
Ich darf Sie nicht weiter treffen, nicht Ihre Nähe suchen, da ich ein verdorbener, schlechter Mensch bin, Meredith. Ich habe schreckliche Schuld auf mich geladen und es gibt nichts, was ich zu meiner Verteidigung vorbringen könnte, als dass meine eigene Gier, mein unbändiger Ehrgeiz mich blendete. Sicher, ich könnte andere beschuldigen, mich zu dieser Untat verführt zu haben, aber in Wahrheit war es doch ich selbst, der dies so wollte. Andere haben sich mir nur angeboten in einem Moment der eigenen, verachtenswerten Schwäche.
Armindale drehte das vollgeschriebene Blatt rasch auf die Rückseite und spürte dabei, wie sich sein Puls beschleunigte. Sollte er womöglich das unverschämte Glück haben, mit diesem Brief ein von Havisham selbst geschriebenes Geständnis in der Hand zu halten? Das wäre in der Tat ein unerhörter Glücksfall!
Aufgeregt las er weiter.
Gewiss, ich war mir damals der Tragweite des Geschehens nicht bewusst, aber als es mir endlich klar wurde, tat ich nichts, um das Kommende zu verhindern. Nein, ich schlug auch noch meinen Vorteil daraus und es war mir gleichgültig, dass ich damit noch mehr Schuld auf mich lud. Zerfressen vom eigenen Ehrgeiz und zu feige, mir meine eigene Verfehlung einzugestehen! Gott möge mir verzeihen für das, was ich tat ... doch ich fürchte, es gibt keine Vergebung dafür. Nicht in dieser Welt, noch in der nächsten. Was ich tat, ist nicht zu verzeihen. Wie könnte ich da andere beschuldigen? Eastman gar, oder den I...r und ... F... u, d... … ...r b ...gab?
Nei..., as wäre ...s ... feig ...
Armindale frohlockte. Tatsächlich! Havisham, dieser ausgemachte Idiot, gestand sein Verbrechen und heulte dabei wie ein Baby. Die verschmierten Flecken auf dieser Seite sprachen eine deutliche Sprache ... doch weiter! Einen Namen hatte er bereits und dann den Hinweis auf den Inder. Gerade dieses Wort und der Rest des Satzes waren jedoch kaum zu entziffern. Einige von Havishams Krokodilstränen hatten die Zeile fast vollkommen verwischt. Egal, er wusste auch so, um was es ging. Nun brauchte er nur noch die Stadt ...
Damals in jener Nacht in Portsmouth
Ha! So ein Narr!
Ach, liebste Meredith, ich wünschte so sehr, ich könnte Ihnen das alles sagen, aber selbst Sie müssten mich dann verachten. Sie sollen mich sogar verachten, ich
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