Stadt der Schuld
unverzüglich zu erfahren, was nun mit den Besitzungen und dem vielleicht noch vorhandenen Restvermögen meines Vaters geschieht und ob nicht doch noch etwas für mich übrig bleibt. Schließlich gibt es ja keinen männlichen Erben mehr«, fügte sie gedehnt hinzu, einer plötzlichen Eingebung folgend. Sie blickte Havisham dabei aufmerksam ins Gesicht. Wie würde er auf die Erwähnung von Daniels Tod reagieren? Hatte Armindale womöglich wirklich recht? Und tatsächlich ... Havisham wich ihrem Blick fast ängstlich aus. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Konnte es möglich sein: War Horace Havisham, ihr eigener Ehemann, wirklich der Auftraggeber für die Ermordung ihres Bruders?
»Ich ... äh ... ich werde dir das Testament zeigen, sobald wir in Whitefell angekommen sind, wenn du es wünschst. Leider muss ich dir aber sagen, dass dein Vater wirklich ruiniert war. Von seinem Vermögen war außer Schulden, die ich inzwischen beglichen habe, nichts mehr übrig.«
»Tatsächlich? Nun, das ist bedauerlich. Allerdings sind Whitefell und die dazugehörigen Ländereien ja wertvoll genug. Das alles ist jetzt dein Besitz. Ich hoffe, du bist nun endlich zufrieden.«
Wieder dieser ausweichende Blick! Noch offensichtlicher konnte sein Schuldgeständnis kaum ausfallen. Isobel hoffte nun inständig, dass Armindale Erfolg haben würde bei seiner nächtlichen Suche. Sie wollte nur noch eines: Horace Havishams vollständige Vernichtung! Und sie würde umgehend damit beginnen.
***
Es war wirklich ein Leichtes für Armindale gewesen, unbemerkt ins Haus einzudringen. Die Stallungen auf der Rückseite des weitläufigen Gebäudes waren nicht sorgfältig verschlossen, wie bei den meisten der vornehmen Häuser, und wie so oft gab es dort eine Treppe, die im hinteren Bereich des Hauses an den Gesinderäumen vorbei bis in die oberen Geschosse führte, die den Herrschaften vorbehalten waren. Man vertraute offenbar sehr der Aufmerksamkeit des Personals. An diesem Abend jedenfalls war der größte Teil des Hauses in Dunkel gehüllt und keiner der Bediensteten ließ sich auf den Gängen blicken. Ein paar von ihnen saßen, wie der Eindringling ohne Mühe hören konnte, unten in der geräumigen Küche, spielten Karten und zechten, da sie nicht gebraucht wurden. Andere schienen früh zu Bett oder ausgegangen zu sein.
Isobel Havisham hatte ihren Teil der Aufgabe wie es schien umgehend erledigt und dem Kutscher die erforderliche Nachricht mitgegeben. Armindale grinste bei dem Gedanken an Havishams Weib und sein Glied regte sich ein wenig. Aah das hatte sich gelohnt! Er hatte hoch gepokert und weit mehr bekommen, als er erwartet hatte. Die dreißig Pfund pro Woche waren entgegen seiner Behauptung auf jeden Fall stattlich zu nennen und obendrein konnte er nun, wann immer es ihn danach verlangte – und solange sie glaubte, es tun zu müssen –, seinen Schaft an ihr wetzen. Was für ein Witz! Abgesehen davon ... er konnte wirklich nicht behaupten, dass ihn Isobel Havisham nicht in Erregung versetzt hätte. Lüstern leckte er seine Lippen. Ja, ganz gewiss würde er, was sie ihm zu schulden glaubte, noch öfter bei ihr eintreiben. Er öffnete leise die nächste Tür. Im Dämmerlicht des von außen eindringenden Scheins der Gaslaternen erglänzten die Prägungen der sorgfältig aufgereihten Akten in den Regalen in blassem Silbergold. Ja, hier war er richtig! Rasch huschte er in den Raum und schloss leise die Tür hinter sich. Dann ging er hinüber zu dem in schwarzer Wuchtigkeit drohenden Schreibmöbel in der Mitte und begann, die Schubladen aufzuziehen. Die dritte widerstand ihm. Das also war der verheißungsvolle, geheime Schrein Havishams. Schnell entledigte er sich seiner Jacke und legte sie vor den Türschlitz, sodass man den Schein der Kerze, die er auf dem Schreibtisch entzündet hatte, vom dunklen Gang aus nicht sehen konnte. Dann zückte er einen Bund mit Dietrichen und machte sich mit geübter Hand am Schloss der Schublade zu schaffen. Kurze Zeit später sprang es mit leisem Klicken auf. Dass die Leute immer glaubten, ein banales Schloss würde einem Dieb genügend Widerstand entgegensetzen. Es war zum Lachen! Armindale zog die Lade ganz heraus. Hm, das sah nicht sehr vielversprechend aus: zwei ledergebundene Notizbücher, ein Medaillon, das, als er es aufklappte, lediglich die gemalten Bilder eines Mannes und einer Frau zeigte – vermutlich die Eltern oder Großeltern Havishams –, dann Briefe und eine Besitzurkunde über ein Cottage in
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