Stadtgeschichten - 01 - Stadtgeschichten
einem aus Holzplanken gezimmerten schmalen Verbindungssteg, der zwischen der Union und der Filbert von der Leavenworth abging. Es war ein ziemlich verwittertes, mit braunen Schindeln verkleidetes zweistöckiges Gebäude. Mary Ann fühlte sich an einen alten Bären erinnert, in dessen Fell sich trockenes Laub verfangen hatte. Das Haus gefiel ihr auf Anhieb.
Die Vermieterin war eine Frau von Mitte fünfzig und trug einen pflaumenfarbenen Kimono.
»Ich bin Mrs. Madrigal«, sagte sie fröhlich. »Ganz Mittelalter.«
Mary Ann lächelte. »So alt wie ich heute können Sie sich gar nicht fühlen. Den ganzen Tag bin ich schon wegen einer Wohnung unterwegs.«
»Dann lassen Sie sich Zeit. Sie haben hier so was Ähnliches wie eine Aussicht, wenn man den kleinen Flecken Bucht gelten läßt, der zwischen den Bäumen durchschimmert. Nebenkosten sind natürlich inklusive. Ein kleines Haus. Nette Leute. Sind Sie diese Woche angekommen?«
»Sieht man das so deutlich?«
Die Hausbesitzerin nickte. »Der Blick sagt alles. Sie können es nicht erwarten, in den Lotos zu beißen.«
»Wie? Ich versteh nicht …«
»Tennyson. Sie wissen doch: ›Dann äß ich Lotos Tag für Tag, / Schaute der Welle, die am Strand sich kräuselt, / Des weißen Schaumes zarter Krümmung nach, / Und weihte völlig Geist und Herz / Der‹ … Was war das bloß, was war das bloß? … Na, Sie verstehen schon.«
»Ist die Wohnung denn … möbliert?«
»Wechseln Sie nicht das Thema, wenn ich Tennyson zitiere.«
Mary Ann war irritiert, doch dann merkte sie, daß die Vermieterin lächelte. »Sie werden sich an mein Geplapper schon gewöhnen«, sagte Mrs. Madrigal. »Bei den anderen war das auch so.« Sie ging ans Fenster, wo der Wind ihren Kimono flattern ließ wie ein glänzendes Gefieder. »Die Wohnung ist möbliert, ja. Was sagen Sie, meine Liebe?«
Mary Ann sagte ja.
»Gut. Dann gehören Sie jetzt zu uns. Willkommen in der Barbary Lane 28.«
»Ich danke Ihnen.«
»Ja, das sollten Sie auch.« Mrs. Madrigal lächelte. Ihr Gesicht hatte etwas leicht Verhärmtes, doch Mary Ann kam zu dem Schluß, daß sie wirklich sehr nett war. »Haben Sie irgendwelche Vorbehalte gegen Haustiere?« fragte die neue Mieterin.
»Meine Liebe … Ich habe gegen gar nichts Vorbehalte.«
In Hochstimmung marschierte Mary Ann bis zur Ecke Hyde und Union und rief vom Searchlight Market aus Connie an. »Hallo. Was glaubst du, was passiert ist?«
»Bist du entführt worden?«
»Oh … Connie, es tut mir leid. Ich habe mich nach einer Wohnung …«
»Ich hab Todesängste ausgestanden.«
»Das tut mir schrecklich leid. Ich … Connie, ich hab eine entzückende Wohnung auf dem Russian Hill gefunden, zweiter Stock in einem echt tollen Haus … Und ich kann morgen einziehen.«
»Oh … das ging ja schnell.«
»Es ist so niedlich! Am liebsten würd ich es dir jetzt sofort zeigen.«
»Klingt ganz nett. Hör zu, Mary Ann … Also, wenn du irgendwie Geldprobleme hast oder so, kannst du bei mir wohnen bleiben, bis …«
»Ich hab doch was gespart. Trotzdem schönen Dank. Du warst ganz toll.«
»Für dich doch immer. Aber … was machst du denn heute abend, Schatz?«
»Mal überlegen. Ach, ja. Robert Redford holt mich um sieben ab. Wir gehen bei Ernie’s essen.«
»Versetz ihn. Er hat Warzen.«
»Und was krieg ich an seiner Stelle?«
»Das Schärfste, was die Stadt zu bieten hat. Social Safeway.«
»Social was?«
»Safeway, Dummerchen. Wie Supermarkt.«
»Ja, so hab ich das auch verstanden. Aber du weißt ja besser als ich, wo kleine Mädchen ihren Spaß haben können.«
»Zu deiner Information, Kleines, Social Safeway ist nun mal … na ja, es ist halt das … Tollste überhaupt. Nicht mehr und nicht weniger.«
»Für die, die auf Lebensmittel abfahren.«
»Für die, die auf Männer abfahren, Dummchen. Das ist hier Tradition. Jeden Mittwochabend. Und du brauchst nicht mal so auszusehen, als wärst du auf Anmache aus.«
»Das glaub ich nicht.«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, es dir zu beweisen.«
Mary Ann kicherte. »Und was soll ich machen? Hinter den Artischocken in Deckung gehen, bis ein nichtsahnender Börsenmakler des Wegs kommt?«
»Sei um acht bei mir in der Wohnung, Mädchen. Du wirst schon sehen.«
Liebe heute im Angebot
Ein Dutzend Reklametafeln baumelten von der Decke des Marina Safeway und umschmeichelten die Kundschaft mit einer doppeldeutigen Botschaft: »Nachbarn sind wir schon. Freunde wollen wir noch werden.«
Und Freunde fand man hier
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