Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen
war Michael. »Oh … Mouse.«
»Ich weiß, es ist ’ne unchristliche Zeit, Kleines.«
»Was?«
»Sei nicht sauer. Ich wollte dir nur meine neue Ankunftszeit … ach Mist, du bist sauer.«
»Nein, schon gut. Laß mich erst mal zu mir kommen.«
»Du klingst schwer geschlaucht.«
Sie sah auf den Wecker. »Es ist fünf Uhr dreiundfünfzig, Mouse.«
»Ich weiß. Entschuldige.«
»Und ich hab vorhin eine Valium genommen.«
»Oje.« Er summte die Titelmelodie von Valley of the Dolls.
»Hör auf«, sagte sie. »Wo bist du?«
»In England. Easley-on-Fen.«
»Wo?«
»Auf dem Landsitz von Lady Roughton.«
»Ah ja.« Sein Geplänkel nervte sie.
»Ich erzähl’s dir später. Ich wollte dir bloß sagen, daß ich drei Tage länger bleibe.«
Ihre Antwort war ein tonloses »Oh«. Wie lange sollte sie denn noch allein bleiben?
»Es ist toll hier«, sagte er. »Vielleicht hätt ich es dir noch gar nicht sagen sollen. Tut mir leid. Ich seh dich dann am …«
»Leg nicht auf, Mouse.«
»Hm?«
»Bleib dran. Sprich mit mir. Ich krieg langsam Zustände.«
»Wie viele Valium hast du …«
»Brian ist weg. Wir hatten gestern Krach, und er ist aus dem Haus gerannt, und … ich glaub, es ist ihm was passiert.«
»So schlimm kann’s nicht sein«, sagte er.
»Doch.«
»Klingt mir eher danach, als ob er dich zappeln läßt. Wie lange ist er schon weg?«
»Fast vierundzwanzig Stunden.«
Michael sagte nichts.
»Soll ich die Polizei verständigen?« fragte sie.
»Ich weiß nicht.«
»Ich meine … wenn er in ein Motel gegangen ist … meinst du nicht, er hätte sich inzwischen gemeldet?«
»Wahrscheinlich«, sagte er. »Aber vielleicht solltest du ihm noch ein paar Stunden …«
»Ich hatte einen gräßlichen Traum, Mouse.«
»Wann?«
»Grade eben. Bevor du angerufen hast. Wir waren auf einer Trauerfeier, du und ich.«
»Du denkst nur an Jon«, meinte er.
»Nein, das war was anderes. Es war in einer kleinen Kapelle. Und Brian war nicht dabei.«
»Kleines …«
»Es kam mir vor, als wär’s Wirklichkeit, Mouse.«
»Ich weiß. Das ist normal. Du hast schweren Stress. Du brauchst Schlaf, das ist alles. Wenn ich dich nicht geweckt hätte, wär dir dieser Traum gar nicht mehr eingefallen.«
Sie fand, daß er recht hatte.
»Außerdem glaub ich, daß Brian bloß mal wieder Terror macht«, fügte er hinzu.
»Meinst du wirklich?«
»Ja. Ruh dich ein bißchen aus, ja? Wenn die Sonne scheint, sieht’s gleich wieder besser aus.«
»Gut.«
»Wir sehn uns dann am Freitag.«
»Ist gut. Ich bin froh, daß du ’ne schöne Zeit hast, Mouse.«
»Dank dir. Na-hacht.«
»Na-hacht.«
Kurz nach zehn stand sie auf, rief Larry Kenan an und meldete sich krank. Er nahm die Nachricht relativ freundlich auf, was ihren bohrenden Verdacht, daß etwas ernstlich faul war, noch verstärkte. Aus Trotz machte sie sich ein extragroßes Frühstück. Brian sollte es nicht gelingen, sie noch mehr leiden zu lassen. Gelitten hatte sie schon mehr als genug.
Als sie auf der Gartenbank die Cosmopolitan las, kam Mrs. Madrigal heraus und setzte sich zu ihr.
»Herrlicher Tag«, sagte die Vermieterin.
»Mmm.«
»Schöne Ostern gehabt?«
Mary Ann zögerte. »Es ging.«
Mrs. Madrigal lächelte teilnahmsvoll. »Ich vermisse ihn bereits. Du nicht auch?«
Einen Augenblick dachte Mary Ann, es sei von Brian die Rede. »Oh … sicher … war ein netter Kerl.«
Die Vermieterin nickte nur. Mary Ann schaute wieder in ihre Zeitschrift.
»Und Brian ist auch weg, nicht?«
Mary Ann sah ihr in die Augen. »Woher wissen Sie das?«
»Ach … nur so ein Gefühl.«
Sie spürte, wie die Angst in ihr aufstieg. Wenn Mrs. Madrigal Vorahnungen hatte, konnte vielleicht auch der Traum von letzter Nacht etwas zu bedeuten haben.
»Willst du darüber sprechen, Liebes?«
In fünf Minuten hatte sie der Vermieterin alles erzählt: Brians Sterilität und was sie sich ausgedacht hatte, um schwanger zu werden; wie sie Simon gekränkt und sich bei ihm entschuldigt hatte; Brians vorzeitige Rückkehr und sein wütender Abgang. Mrs. Madrigal hörte sich alles ganz ruhig an, doch als Mary Ann fertig war, mußte sie tief Luft holen.
»Tja, ich muß sagen … diesmal hast du dich selbst übertroffen.«
Mary Ann sah schuldbewußt zu Boden. »Sie meinen, ich hätte es nicht machen sollen?«
»Komm, das weißt du doch selbst am besten.«
»Was denn?«
»Ich erteile keine Absolutionen, Liebes.« Sie griff Mary Anns Hand und drückte sie. »Aber ich bin froh,
Weitere Kostenlose Bücher