Stadtluft Macht Frei
bis zum nächsten Jakobstag einen Zwinger mit Tor und Brücke und allem, was dazu gehört, zu errichten, der „genau so gut sei wie der Zwinger vor dem Reimlinger und vor dem Berger Tor“. Doch noch immer reichten Geld und Mittel für den Weiterbau nicht aus, und noch einmal wurde gegen Ende des 14. Jahrhunderts die Steuerschraube massiv angezogen. Der Nördlinger Rat ging dazu über, |102| ein allgemeines „Grabgeld“ einzuziehen – von Haus zu Haus, von Bürger zu Bürger, von Säckel zu Säckel. Sicherlich werden die Nördlinger den Bau ihrer Mauer mehrfach verflucht haben. Aber sie zahlten, sie bluteten, sie leisteten schließlich doch. Nur vor dem Hintergrund dessen, was eine solche Mauer versprach, sind die gewaltigen Opfer und Leistungen, die hier zu erbringen waren, überhaupt zu begreifen: Frieden vor gewaltsamen Übergriffen von Adeligen aus der Umgebung; ein Recht, das nur von ihnen selbst – den Bürgern der Stadt – bestimmt war; eine Freiheit, die ihnen nicht weggenommen werden konnte.
|103| Um 1390 war der Mauerring endlich geschlossen. Von oben gesehen noch heute ein Kreis im Kreise, ein Rund im Kraterring. Doch noch immer war man weit entfernt davon, „fertig“ zu sein. Würde sie je ganz fertig werden, die Nördlinger Stadtmauer? Nicht wenige Nördlinger werden sich diese Frage damals gestellt haben. Man mauerte die niedrige Brustwehr auf. Man überdachte den Wehrgang, um Waffen und Pulver vor Nässe zu schützen. Man erhöhte die Zahl der Türme. Man ging daran – um sich endlich ganz sicher zu fühlen –, vor der Mauer einen Graben auszuheben, der mit Wasser gefüllt wurde, wozu eigens das Wasser der Kornlach, eines benachbarten Flüsschens, umgeleitet wurde. Kontrolliert durch ein Staubecken, floss es nun in den Graben ein.
Fast dreihundert Jahre lang haben die Nördlinger an ihrer Stadtmauer gebaut – eine unvorstellbare Zeitspanne. Was dabei entstand, überdauerte die Zeiten. Im Gegensatz zu Köln, das zur modernen Großstadt wuchs, expandierte das mittelalterliche Nördlingen nicht mehr. Es gab keine Notwendigkeit, die Mauer abzureißen, um Platz für aufwendige Neubauten zu schaffen. Von wenigen Häusern und kleineren Siedlungen abgesehen, die vor der Mauer liegen, wird die Stadt Nördlingen noch heute von der Mauer ganz umfasst. Über eine Länge von insgesamt 2,7 Kilometern können Touristen, die die Stadt besuchen, die komplette Stadtmauer mit ihrem Wehrgang ablaufen – und dabei einen Eindruck davon gewinnen, zu welchen gewaltigen Leistungen die Bürger einer mittelalterlichen Stadt in der Lage waren, wenn es darum ging, ihre Freiheit und ihr Recht vor anderen zu schützen. Und innerhalb des Mauerrings selbst liegt die Stadt noch heute wie ein Traum vom Mittelalter, überragt vom „Daniel“, dem Turm der mächtigen gotischen Hallenkirche, dessen Wärter, will man den Turm besteigen, ein Obulus zu entrichten ist.
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|104| Wege in die Stadt – Von den Wanderungen der Neubürger
D er Weg in die mittelalterliche Stadt war beschwerlich, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Wenn sich die Menschen aufmachten, um eine Stadt zu erreichen, in der sie um Aufnahme als Neubürger ersuchten, als Reisende um ein Quartier baten, in der sie ihre Waren verkaufen oder ihre Künste darbieten wollten, so hatten sie keinen leichten Gang. Je nach Wetter und Jahreszeit schufen Regen und Schnee schlammige, manchmal kaum passierbare Wege. Der Schlamm klebte nicht nur am Schuhwerk und spritzte bis zu den Kleidern hoch. Man trug ihn, erreichte man endlich die Siedlung oder das Quartier für die Nacht, in die Häuser hinein. Doch es gab Wege nicht nur auf dem Land. Die weitaus besten Transportmöglichkeiten (nicht nur im Mittelalter, sondern auch noch in der Frühen Neuzeit) boten die Wasserwege. Sie waren die große Alternative. Was auf dem Landweg, ganz gleich ob man zu Fuß ging, ein Maultier, Pferd, Fuhrwerk oder Wagen benutzte, so gut wie unmöglich war, das ging hier ohne Weiteres: einigermaßen schnell und mühelos voranzukommen. Nicht nur Flüsse und Seen ließen sich befahren. Mit den im Mittelalter gebräuchlichen Langschiffen war es teilweise auch möglich, Bäche für das Vorankommen zu nutzen. Zwar waren auch die Wasserwege keineswegs ungefährlich. Untiefen, Felsen und Stromschnellen konnten vor allem im Frühjahr, zur Zeit der Schneeschmelze, eine Schiffsreise zu einem lebensbedrohlichen Unternehmen machen. Dennoch waren die Flüsse das gesamte Mittelalter hindurch die
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