Stadtlust - vom Glueck, in der Großstadt zu leben
werden auch weit mehr alte Frauen am Steuer sitzen, weil die Babyboomergeneration seit Jahrzehnten Auto fährt, Männer wie Frauen. Überhöhte Geschwindigkeit, so ist in dem Lagebericht zu lesen, spielten als Unfallursache im Alter eine geringere Rolle. Zum Risiko werde es aber, wenn »ältere Autofahrer und Autofahrerinnen in komplexen Begebenheiten in knapp bemessener Zeit Entscheidungen treffen müssen.« Da wird die Fahrt vom Dorfgetuckel in den Großstadtverkehr zur Mutprobe. Sprich: Wer auf dem Land mit dem Auto zwar noch zum Discounter auf der grünen Wiese fährt, weil er jede Abzweigung kennt und der Parkplatz groß und selten überfüllt ist, traut sich nicht unbedingt neue und lange Wege zu.
Also ÖPNV ? Leider, so der Bericht, »ist im ländlichen Bereich die Versorgungsstruktur oftmals nicht flächendeckend«. Soll heißen: Der Bus fährt, wenn überhaupt, einmal morgens und einmal abends. Als nächste Hürde kommen lange Fußwege zur Haltestelle hinzu, und am Bahnhof oder an der Bushaltestelle warten noch mehr Schwierigkeiten. Kein Schalter mehr besetzt, und wie bedient man noch mal diese modernen Fahrkartenautomaten? Der alte Mensch muss Barrieren überwinden, zum Bahnsteig oder in den Bus hinein. Für wackelige Geher ist das schon nicht einfach, mit dem Rollator wird es so schwierig, dass man es eben bleiben lässt. Die Fahrt in die Stadt wird zum umständlich geplanten Jahresausflug, bei dem Kinder oder Enkelkinder meist nicht helfen können, weil die lange schon woanders wohnen.
So gaben noch 1996 etwa 73 Prozent der 55- bis 69-jährigen Deutschen an, in räumlicher Nähe zu mindestens einem ihrer Kinder ab 16 Jahren zu wohnen. 2002 waren dies nur noch etwa 65 Prozent, Tendenz sinkend. Ein Trend, der eine besondere Problematik in den ländlichen Gebieten, vor allem der neuen Bundesländer, aufzeige: Im Zuge der Binnenwanderung ziehen oder pendeln Kinder zu einem weit entfernten Arbeitsort, die Eltern bleiben im kleinen Heimatort. Denn wer nicht Automechaniker wie der Vater oder Hausfrau wie die Mutter werden möchte, sondern eine umfangreichere Ausbildung für sich will, kann das wohl kaum im 3000-Seelendorf. Der Nachwuchs musste wegziehen und blieb weg (s. Kapitel 4).
Am besten ziehen die Alten hinterher. In einem Essay über Landlust und Landfrust zitiert die ZEIT (6/2011) eine »nordfriesische Warftbewohnerin« mit dem Satz: »Wenn ich alt bin, möchte ich in der Stadt leben, um nicht immer den Rollator in den Kofferraum wuppen zu müssen.« Das Altwerden auf dem Land habe seine Tücken, ist dort weiter zu lesen, vor allem, wenn man pflegebedürftig wird. Die Hilfe in der Stadt gilt als »formell und professionell«, was nicht sehr human klingt, aber pragmatisch ist. Mag sein, dass man sich auf dem Land, wenn denn alle noch zusammen wohnen, in der Familie hilft. Doch die Deutschen werden immer älter, wie sollen die Söhne und Töchter den Alten noch helfen, wenn sie selbst schon betagt sind, wenn also 70-Jährige die 90-Jährigen pflegen sollen? Die Zahl der Hochaltrigen wird in Zukunft weiter zunehmen. Im Jahr 2020, so analysiert das Projekt »Leben und Wohnen im Alter« der Bertelsmann Stiftung und des Kuratoriums Deutsche Altershilfe, werden über fünf Millionen in Deutschland 80 Jahre und älter sein. Am gravierendsten jedoch, so die Untersuchung, wirke sich die zahlenmäßige Abnahme der jüngeren Bevölkerungsgruppen unter 40 Jahren aus. Von heute rund 40 Millionen werden es dann nur noch 33 Millionen sein.
Wo also wohnen im Alter? Die Vorstellung, in einem aussterbenden Dorf nur noch mit einer Handvoll Gleichaltriger auszuharren, ein wahrhaft apokalyptisches Bild. Außer es handelt sich gleich um ein Seniorendorf, ein deutsches »Sun City«, wie exklusive Rentnerstädte in USA genannt werden. Etwas Ähnliches entstand bei Meppen, wie das Onlinemagazin sechs+sechzig berichtet. In dem Dorf mit 43 Häusern lag der durchschnittliche Preis für ein Haus bei rund 175000 Euro – »alle schon verkauft«. Die Käufer müssen mindestens 60 Jahre alt sein, man kann aber auch ein Haus mieten. Die Wohnfläche liegt zwischen 70 und 110 Quadratmetern, natürlich der Großteil im Erdgeschoss. Auch an notwendige Türbreiten, ebenerdige Duschen und barrierefreie Zugänge habe der Bauherr gedacht. Bislang ist aber noch nicht sicher, ob dieses amerikanische Modell für den quietschfidelen Teil der Generation Golfplatz in Deutschland Vorbildcharakter haben wird.
Dann also lieber in die Stadt, die auch
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