Stadtlust - vom Glueck, in der Großstadt zu leben
Frieden leben, wenn es dem Nachbarn nicht gefällt. Ein Freund, der in einem Dorf in Bayern aufgewachsen ist, erzählte mir folgende Geschichte: Die Mutter meines Freundes wohnt noch immer in diesem Dorf. Sie ist Ende siebzig, als sich ein Mann in sie verliebt. Der Mann hatte ihr Haus renoviert. Er ist Maler von Beruf. Er ist dreißig Jahre jünger. Er zieht bei ihr ein. Beide sind so glücklich, wie es nicht jedem in seinem Leben überhaupt je gegönnt ist. Aber im Dorf redet niemand mehr mit ihr. Pervers sei das. Ein marokkanisches Sprichwort sagt: »Tu, was deine Nachbarn tun, oder zieh weg.« Aber das lässt sich nicht so leicht befolgen, wenn man nicht zur Miete wohnt, wie zwei Drittel der allein lebenden Städter, sondern an ein Haus gekettet ist. Im Dorf der alten Frau wechseln die Nachbarn die Straßenseite, um sie und ihren Freund nicht ansehen zu müssen, um ihre Abscheu zu demonstrieren.
Es gibt dieses Schreckgespenst vom Leben in der Stadt, das die Menschen auf dem Dorf an die Wand malen: In der Stadt kannst du doch einen Monat in deiner Wohnung vergammeln, und keiner merkt es. Wir meinen: Lieber so ein Tod in der Stadt als so ein Leben auf dem Land. »Small town, big hell«, so der US-amerikanische Dokumentarfotograf Stephen Ferry, der Menschen in großen und kleinen Städten rund um die Welt beobachtet. Die Stadt ein Sündenpfuhl? Ja, bitte.
Was ist schon pervers? Klar, auch der Dorfbewohner fährt in Swingerklubs oder BDSM -Keller. Nur muss er dafür eben – weit fahren. Weil es vielleicht in seinem Dorf nicht genau das Passende gibt und er vielleicht auch nicht die Nachbarin treffen möchte. Der Städter hat wieder, wie bei allem, die größere Auswahl.
Transsexuell, Transgender, bi, FFM , was das Herz oder der Körper begehrt, hier treiben sich alle rum. Und es interessiert keinen großartig. Nur die, die einen Partner suchen, für die Nacht, die Mittagspause oder den Frühling. Eine »ziemlich typische Berlinerin« stellte sich so auf einem Erotikportal vor: Ihr Leben unterscheide sich möglicherweise doch etwas von Regensburgerinnen, Greifswalderinnen oder Linzerinnen. »Ich bin schillernd und glitzernd und funkelnd wie eine rauschende atemlose Berliner Nacht, ich bin so bunt, schrill und freakig wie die Personen der U-Bahnlinien, die anonym in einem Abteil sitzen, sich fremd sind und das Leben hier trotzdem teilen, und ich bin auch manchmal trist und grau, wie die vielen anderen Frauen in dieser sonst so wankelmütigen, großmäuligen und an der Schwelle einer neuen Zeit befindlichen Stadt.« Danke, liebe Unbekannte. Besser hätten wir es nicht sagen können! Bestimmt wird sie den einen gefunden haben, den sie suchte – oder die drei Affären, nach denen ihr der Sinn steht. Schließlich leben in Berlin gut 600000 Singles, wie die Online-Datingplattform parship 2009 ermittelte. Es lebe die Anonymität der Großstadt!
Danach sehnt sich, wer auf dem Dorf lebt, da nicht wegkann, aber nicht so lebt wie alle anderen dort. Denn natürlich hat Glück, wer wählen, wer sich einfach aussuchen kann, will ich lieber in der Stadt oder auf dem Land leben, und diesem Wunsch dann folgt. In der Stadt ist es ja sogar möglich, was die Berliner Autorin Christiane Rösinger empfiehlt, ganz ohne Beziehung zu leben: »Anders als der Großstadtsingle muss man sich in einer ländlichen oder kleinstädtischen Umgebung fürs Alleinleben immer noch rechtfertigen.« Dennoch, laut einer Allensbach-Umfrage glauben 66 Prozent der Deutschen an die Liebe fürs Leben. Erstaunlich, denn elf von tausend Ehen werden jährlich geschieden. Im Jahr 2010 waren das 187000 Ehepaare, wie das Statistische Bundesamt ermittelte. Und das sind nur die Ehen. Da wettert Christiane Rösinger lieber weiter gegen die »romantische Zweierbeziehung«, von ihr nur RZB genannt. Es sei doch absurd, schreibt sie, »autonome Menschen tun sich freiwillig zusammen und werden zu mobilen Paargefängnissen, sind dabei aber verzweifelt bemüht, die Illusion einer glücklichen Beziehung aufrechtzuerhalten.«
Das mag als Luxusproblem ansehen, wer einfach nur zusammen leben möchte, ohne großes Aufsehen zu erregen. Für Schwule und Lesben ist das Leben im ländlichen Raum noch immer schwierig. »Als Schwuler auf einem Dorf zu wohnen ist scheiße!« So schlicht fassen es Kommentare auf einer Website zusammen. Da erzählen zumeist junge Menschen davon, wie es ihnen auf dem Land ergeht. Erschreckend oft bekennen sie, »nicht geoutet« zu sein. Homosexuelle in
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