Stadtlust - vom Glueck, in der Großstadt zu leben
kommen aus Exjugoslawien, und viele sind Deutsche. Und es leben nun gut 40000 Türken in Wien. Eine Stadt so kosmopolitisch wie das alte Konstantinopel.
Aber wozu der ganze Kunstsermon, die Kulturschickeria? Was ist denn mit dem Flötenkonzert in der Grundschule, dem Aquarellbild vom Kunsthandwerkmarkt, dem Dixilandjazz in der Kneipe, das jedes Dorf bietet? Tut es das nicht auch? All das bietet ja die Stadt. Auch. Wem das aber nicht reicht, wem das Dekorative und Unterhaltsame nicht genügt, der wird nur in der Stadt fündig. Denn je größer die Stadt, desto mehr Nischen bietet sie. Nur dort erschafft Kreativität endlose Absonderheiten – und findet sich das Publikum dafür. »Wesentlich ist aber«, sinniert die Wiener Kulturmanagerin, »dass die offene Gesellschaft Kultur braucht, um Dinge, die keinen unmittelbaren Nutzen haben, ausprobieren zu können.« Der rumänische Schriftsteller Norman Manea schreibt in der WELT , die komplizierten Dilemmata unserer Zeit seien durchzogen von der »Tyrannei des Pragmatismus«. Durch die Routine der Abkürzungen würden Wahlmöglichkeiten ignoriert oder umgangen. Kultur hingegen sei die »notwendige Pause von der täglichen Tretmühle und von unserer chaotischen und oft vulgären politischen Umgebung«. Große Bücher, Musik und Gemälde seien nicht nur eine außerordentliche Schule für Schönheit, Wahrheit und das Gute, »sondern auch eine Methode, unsere eigene Schönheit, Wahrheit und Qualität zu entdecken – das Potenzial für Veränderung und die Möglichkeit, uns und sogar unsere Mitmenschen zu besseren Menschen zu machen«. Wer in einem Sinfoniekonzert sitzt, das Smartphone ausgeschaltet und fern aller aktuellen Aufregungen, kann sich eine Auszeit nehmen, kann sich auf eine Sache allein konzentrieren: die Musik. Kunstgenuss kann auch eine aktive Pause vom anstrengenden Multitasking sein und wirkt doch nach und schafft Neues, neue Gedanken, neue Ideen und vielleicht sogar Taten.
»Wo verschiedene Kulturen zusammen leben, wie etwa in Wien, öffnet das Freiräume«, sagt Maribel und schlägt vor, nun etwas essen zu gehen.
Die Stadt als Hort der kulturellen Erinnerung
Der Geist braucht Metropolen. Dessen sind sich auch die Münchner Philologen Martin Hose und Christoph Levin sicher. Eine von ihnen herausgegebene Kulturgeschichte der Großstädte des Altertums trägt den Titel Metropolen des Geistes . Die Metropolen, so die Autoren, seien die »kulturellen Schmelztiegel, aus denen Neues erwächst. Sie bilden mit ihren großen Bibliotheken, Galerien und Museen den Hort der kulturellen Erinnerung.« Denn Kultur verweist immer auf frühere vorangegangene Kultur. Manches scheint nur in der Rückschau simpel und verständlich, war aber einmal radikal modern. So etwa Cezannes impressionistische Landschaftsbilder, die heute zu Kalenderblättern verpostert werden, zu ihrer Entstehungszeit aber für Hohngelächter sorgten. Oder, um ein neueres Beispiel zu nehmen: »Angie«, ein Song von den Rolling Stones, jener Band dieser verpönten und jugendgefährdenden Langhaarigen, findet sich heute auf Kuschelrock- CD s.
Städte als Zentren politischer und wirtschaftlicher Macht nährten die Kultur auch im ganz wörtlichen Sinn, indem sie Wissenschaft und Künste alimentieren. »Denn Metropolen brauchen den Geist.« Städte sind eben mehr als viele Menschen, auch wenn genau dieses Mehr die Urbanität ausmacht. »Ein Mehr an Bevölkerung, an Ressourcen, an Kraft und Aufmerksamkeit, an ethnischer und kultureller Diversität, kurzum«, so Hose/Levin, »ein Mehr an Lebensmöglichkeiten für den Menschen.«
Von Turmbau zum Wolkenkratzer
Städte sind groß und schaffen Großes. Denn Großstädte stellten die Menschen vor immer neue Herausforderungen, an denen der Geist wuchs. So wurde quer unter dem Hügel, auf dem Jerusalem gerade entstand, ein Tunnel angelegt, um Trinkwasser in einen Teich zu leiten. Um die Bauzeit zu verkürzen, gruben die Arbeiter von beiden Seiten zugleich. Die Bautrupps trafen tatsächlich tief unter den Mauern Jerusalems aufeinander, was für eine Ingenieursleistung – im 8. Jahrhundert v. Chr.! Und der Turmbau zu Babel kann gelesen werden als Hybris, als Größenwahn der Menschen, der dann auch von Gott bestraft wurde. Der große Turm in Babylon steht aber auch für etwas anderes: für den Beginn von Architektur, weil hier Statik und Optik zueinanderfinden mussten, und für den Inbegriff menschlicher Schaffenskraft. Das Sprachengewirr ist keine Strafe, es ist
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