Stadtlust - vom Glueck, in der Großstadt zu leben
oder sie gehören möchte. Und es muss weder nur eine sein noch über Jahre gleichbleibend. Das menschliche Chamäleon kann sich wandeln. Heraustretend aus der gott- oder dorfgegebenen Individualität, muss der Mensch auch lernen zu abstrahieren. Oder, wie Richard Sennett es formuliert: »Die moderne Großstadt kann die Menschen veranlassen, sich nach außen statt nach innen zu wenden.« Wo eine gemeinsame Geschichte fehle, gelte es, das Leben auf eine weniger persönliche Basis zu stellen. »In einer Diskussion etwa über das, was gerecht und ungerecht sei, muss man sich auf die Prinzipien der Gerechtigkeit berufen und nicht auf die Traditionen einer bestimmten ethnischen Gruppe.« Der Glaube daran, sich zu erschaffen, sei das Kennzeichen der Modernität, für die Städte stehen, und bilde den Gegensatz zum Nachleben festgefügter Rollen in der traditionellen Gesellschaft.
Das Wechselspiel zwischen »Schocks und Schokoladenseiten der Stadt«, so Rainer Metzger, Professor für Kunstgeschichte in Karlsruhe, über die drei Metropolen der Weimarer Zeit, München, Wien, Berlin, gilt es auszuhalten. Wie auch die Wahlfreiheit. Das schreibt auch Georg Simmel, der frühe Stadtsoziologe. Der Großstädter sei »frei« im Gegensatz zu den »Kleinlichkeiten und Präjudizierungen«, die den Kleinstädter einengten. Es sei jedoch keinesfalls notwendig, »dass die Freiheit des Menschen sich in seinem Gefühlsleben als Wohlbefinden spiegele«.
Kultur im Großen – und im Grätzel
Im Museumsquartier kann es hingegen durchaus zu Wohlbefinden im Gefühlsleben kommen. Mildes Abendlicht, anregender Diskurszustand, Maribel holt uns noch zwei Bier. Wir sind im Downtownmodus, dem Petula Clark in den 1960ern in ihrem gleichnamigen Song huldigte. Diese Art von Glücksgefühl gibt es nur in der Stadt, dort, wo die Lichter viel heller sind und »die Musik des Verkehrs« zu hören ist: » You can forget all your troubles forget all your cares – So go downtown / things will be great …«
Maribel wohnt im sechsten Bezirk, also in Mariahilf. Zu Fuß kann sie zum Naschmarkt, über den jeder Wienbesucher mal schlendert und überteuerte Gewürze oder mit Ziegenkäse gefüllte Feigen kauft. Zu Fuß kamen wir auch ins Museumsquartier. Sie hat noch einen Vorschlag für meine Wiener Stadterkundung: ein Spaziergang am Ring entlang. Jeder Wienbesucher wird einmal den Boulevard entlangschlendern, der etwa zur selben Zeit entstand, als Haussmann Paris umstülpte. Nur haben die Wiener für die Ringstraße keinen Stadtteil plattgemacht, sondern den Festungswall, der die Türken abgehalten hatte. Die repräsentativen Bauten allein sind sehenswert, manifestiert sich doch in Architektur das Städtische. Doch am Ring zeigt sich noch mehr.
Im heute belächelten Historismus, einem Sammelsuriumbaustil, stehen dort drei mächtige Gebäude, die alles repräsentieren, was Stadt ausmacht, was Städte hervorbrachten. Das erste Gebäude, das fertig wurde, war die Oper. Eröffnet wurde die Wiener Hofoper 1869 mit Mozarts Don Giovanni , heute heißt das Haus Wiener Staatsoper und ist eines der wichtigsten Opernhäuser der Welt. Das Gebäude ist im Stil der Italienischen Renaissance gebaut, eine Reminiszenz an jene Zeit, in der die ersten Theaterbauten in den italienischen Städten entstanden. Das Rathaus hingegen streckt spitze Türmchen in die Höhe, es vertritt den Stil der flämischen Gotik – jene Zeit, als die Städte in Mitteleuropa »reichsfrei« und unabhängig wurden. Das Parlamentsgebäude hingegen klotzt mit neoattischem Stil. Heraufbeschworen wird damit das Entstehen der Demokratie im alten Athen. Das neobarocke Burgtheater, die Universität, das Natur- und Kunsthistorische Museum, das für Angewandte Kultur … Wien hat sich im 19. Jahrhundert mit einem neuen Ringwall bewehrt: dem der bürgerlichen Institutionen.
Kultur im Großen – und im Grätzel, wie der Wiener den Kiez nennt. Maribel Königer sagt, wenn sie so eine elektronische Fußfessel tragen müsste und nur tausend Meter rund um ihr Haus gehen dürfte – »es würde mir im Prinzip an nichts fehlen«. Sie hätte die Wahl zwischen Apollo-Kino, Filmcasino, Topkino und English Cinema Haydn, zwischen Haydnhaus, Schuberts Sterbezimmer und Oskar-Werner-Haus, zwischen den Aquarien im Haus des Meeres und den Verliesen des Foltermuseums. Sie könnte einen Spaziergang über den biedermeierlichen Spittelberg machen oder ins Theater an der Gumpendorfer Straße, ins Aktionstheater Interkulttheater oder
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