Stadtlust - vom Glueck, in der Großstadt zu leben
Arbeitskräfte frei, gleichzeitig erforderten neue Produktionsmittel neues Handwerk. Und mit einer Ahnung von Freizeit und gestiegener Lebensqualität kam ein Bedarf nach mehr als »unser täglich Brot« auf. Waren und Gewürze aus fernen Ländern tauchten auf, der Handel wuchs. Kaufleute fanden immer mehr Abnehmer ihrer Waren. Die Orte, die entstanden, wurden nicht von Bauern besiedelt, die neues Land urbar machten, sondern von Händlern, Handwerkern und – einer Verwaltungsschicht.
Das Leben in den Städten war komplexer als das Schollenwenden. So wurden im 12. Jahrhundert Schulen und Universitäten gegründet. Ein Mehr an Wissen wurde nötig; nicht nur, wer Waren verkaufen wollte, musste rechnen können und möglicherweise Briefe schreiben an Produzenten, Regierungen und Abnehmer. Die Stadt schuf Wissen, in den Städten verdichtete sich das Bewusstsein über den Zustand der Welt. Im 13. Jahrhundert lebten etwa zwanzig Prozent der Europäer in Städten. Die Bildung verlangte nach immer mehr Kultur. Während der Renaissance, im 16. Jahrhundert, bauten sich italienische Städte die allerersten geschlossenen Theater.
Eine große Bühne aber war und ist die Stadt selbst, bei Tag und bei Nacht. Stadtbewohner sind und waren auch nachts unterwegs, weil es etwas zu tun oder zu sehen gibt und weil nicht der Hahnenschrei, nicht Sonnenauf- und -untergang den Tagesrhythmus bestimmen, sondern die vom Menschen selbst gewählte Uhr-Zeit. Im Mittelalter hing die Uhr der Stadt für jeden sichtbar am Belfried genannten Uhrturm. Oder gleich am Rathaus, dem Haus des Stadtrates, dem im Mittelalter entstandenen Gremium; denn nun sprach nicht mehr der Adel Recht, sondern der Rat aus Bürgern, die einflussreichen Familien entstammten.
Das Brodeln des Lebens
Aber was war denn nun so toll an diesen Städten, voll stinkender Kloakengassen, Pest und Cholera, diese drangvolle Enge in den winzigen Häusern, Lärm und Geschiebe Tag und Nacht? Und heute, was hat man davon, wenn unterm Fenster an der Linken Wienzeile statt eines Bachs und Lindenbäumen laut der Verkehr rauscht und die U-Bahn quietscht, wenn sich auf dem Weg ins Büro Radfahrer, Rollertreter und Fußgänger einen schmalen Bürgersteig teilen müssen, wenn Menschen überall und stets zu sehen sind?
Maribel lauscht in das Brodeln des Lebens im Innenhof des Museumsquartiers. Wir lieben Städte. Wie bei jeder Liebe kann man nicht alles erklären, aber bei Maribel liegt der Fall klar. Ohne eine rege Kulturszene kann sie sich ihr Leben gar nicht vorstellen. »Zweimal im Monat« gehe sie ins Burgtheater. Ausstellungen, Kino, Diskussionen – es ist ja alles da. Und die Kulturprojekte, für die sie Öffentlichkeitsarbeit macht, finden ebenfalls in Städten statt. So förderte Die ERSTE Stiftung 2008 mit einem grenzüberschreitenden Projekt die junge Kunstszene von Wien, Prag, Bratislava und Budapest und unterstützt die kulturelle Zusammenarbeit dieser Hauptstädte »im Herzen des neuen Europas«. Nur in Städten, so Maribel, »gibt es diese kritische Szene, die in Konzepten denkt, die gesellschaftliche Realität hinterfragt«. Dafür müsse man »in der Mitte dieser Gesellschaft leben, und das sind eben urbane Szenerien«. Kunst braucht Stadt, denn nur in der Stadt gibt es Reibungsflächen, weil eben nicht alles so einfach funktioniert. »Reibung erzeugt Wärme. Und Brennpunkte fördern hitzige Debatten. Kreativität entsteht aus dem Wunsch, etwas anders zu machen als andere. Dafür musst du aber wissen, was andere so machen. Kunst braucht – genauso wie Wissenschaft und Politik – Auseinandersetzung. In einer Hütte im Wald ist das schwierig. Auch in einer mit WLAN .« Das wusste auch schon der amerikanische Lyriker Walt Whitman. Anders als sein Zeitgenosse Henri David Thoreau, der sich in eine selbstgebaute Blockhütte am Walden-See zurückzog und das »Leben in den Wäldern« beschrieb, jauchzte Whitman seine Ode auf die Großstadt: »Behalte deine Wälder, o Natur, und die stillen Plätze dort. Gib mir Gesichter und Straßen! / Gib mir immer neue Augen(…)! / Lass mich neue sehen jeden Tag! / Gib mir zu schauen, gib mir die Straßen!«
Wien reibt sich wieder gewaltig. Wien wächst. Um 1910 war die Donaustadt die viertgrößte Stadt der Welt. Und in den vergangenen zehn Jahren ist Wien um 160000 Einwohner gewachsen. »So viel wie Innsbruck Einwohner hat«, verdeutlicht die Stadtentwicklerin Ina Homeier-Mendes. Ein Drittel aller Wiener hat einen Migrationshintergrund, viele
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