Stadtlust - vom Glueck, in der Großstadt zu leben
schnurzegal. Großstädter sind ungewöhnlichen Verhaltensweisen, Spleens und Spinnern gegenüber tolerant.
Besonders tragisch zeigt sich die ungleiche Versorgung psychisch Kranker zwischen Stadt und Land in der Suizid-statistik. Von 2007 bis 2010 tauchen unter den vierzig Orten mit der höchsten Selbstmordquote lediglich vier Großstädte auf; nach vielen vermeintlichen Kleinstadtidyllen wie Baden Baden, Traunstein oder Konstanz folgt Nürnberg als erste Stadt über 350000 Einwohnern an zwölfter Stelle. Deutschlands größte Stadt Berlin liegt im letzten Drittel der Liste und hat mit 10,4 Toten pro 100000 Einwohnern deutlich weniger zu betrauern als der Landesdurchschnitt (11,5).
Das gleiche Phänomen gilt in Österreich. Nestor Kapusta, Arzt an der Wiener Uniklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie, begründet das mit der »höheren Verfügbarkeit und Akzeptanz von medizinischen und psychosozialen Hilfsangeboten« sowie »einer generell psychosozialen Besserstellung der Bevölkerung in urbanen Regionen«. Soll heißen: Die urbane Mischung aus mehr Hilfe, mehr Toleranz und mehr Verständnis rettet Leben.
Überraschung 5: Städte sind »therapeutische Landschaften«
Wie eigentlich gestaltet man eine Stadt gesünder? Seit Kurzem erst machen sich Stadtplaner, Mediziner und Umweltpsychologen gemeinsam Gedanken über diese Frage und unterscheiden dabei »pathogene« Faktoren, wie etwa Lärm, Abgase oder Gewalterfahrungen, die zukünftig vermieden werden sollen, von »salutogenen Faktoren«, die das Wohlergehen von Städtern verbessern wie etwa Sportanlagen, Begegnungsstätten oder eine gute medizinische Versorgung. Eine ihrer Erkenntnisse: »Stadtgrün« und »Stadtblau« sind die Wellnessoasen der Großstädter. Oder anders gesagt: urbane Grünanlagen, Parks und Wasser an Seen, Flüssen oder Kanälen haben einen unschätzbar wertvollen Erholungsfaktor. Ein Spaziergang im Englischen Garten oder an der Alster, eine Joggingrunde durch den Stuttgarter Rosensteinpark oder am Hannoveraner Maschsee, ein Picknick am Kölner Rheinufer oder ein kurzes Bad im Berliner Weißensee: Jeder Großstädter liebt diese urbanen Landschaften. Hingehen, eintauchen, durchatmen – und der Stadtmensch fühlt sich wie neu geboren. Erfrischt, erholt, entspannt.
Der Bielefelder Geograf Thomas Claßen spricht von »therapeutischen Landschaften« und weiß aus vielen Studien, dass urbane Grünräume eine entscheidende Gesundheitsressource für Städter darstellen. Nicht nur, weil sie grün sind – davon gibt es mehr in Wald und Heide –, sondern auch »aufgrund ihrer psychologischen, stadtökologischen und sozialen Funktion«. Sprich: Sie inspirieren, man lernt Leute kennen, erweitert seinen Horizont und erforscht seine Umwelt. In Parks und am städtischen Ufer spaziert man an verschiedensten Menschen vorbei, kann Enten beobachten, Herbstlaub sammeln, mit den Kindern über den Spielplatz toben, Steinchen übers Wasser hüpfen lassen, ein Paddelboot mieten, neue Modetrends entdecken und Skater, Tai-Chi-Akrobaten oder Trompetenspieler bewundern, die sich hierher zurückgezogen haben – und doch mittendrin sind.
Schweizer Forscher des Instituts für Umweltentscheidungen an der ETH Zürich haben Spaziergänger in unterschiedlichen Grünräumen nach ihrem Erholungseffekt befragt: im Wald des Zürichbergs, am Waldrand und in einem Stadtpark. Alle drei Gruppen fühlten sich nach dem Spaziergang signifikant weniger gestresst als vorher – ganz egal, wo sie spazieren gingen.
Das gleiche Ergebnis ermittelten sie nach einer Umfrage unter Joggern: Ob diese im Wald oder im Stadtpark liefen, machte stimmungsmäßig keinen Unterschied– entscheidend war vielmehr, wie schnell sie rannten: Je schneller, umso weniger gestresst kamen sie zurück.
Der größte Vorteil der Stadtlandschaften zeigt sich bei schlechtem Wetter: Man kann sich auch erholen, ohne nass zu werden – im Schwimmbad, in der Kletterhalle, beim Squashen. Die Züricher Forscher haben herausgefunden, dass es stimmungstechnisch nicht einmal einen großen Unterschied macht, ob man sich im Wald oder im künstlichen Ambiente eines Fitnessstudios austobt. Der Erholungseffekt ist quasi der gleiche, wobei die Waldsportler sich nach ihrem Lauf ausgeglichener und stärker von Alltagssorgen befreit fühlten als die Studiosportler; die hingegen haben effektiver Stress abgebaut und erfreuen sich einer größeren Verbesserung ihres körperlichen Wohlbefindens.
Auch gegenseitige Toleranz trägt
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