Stadtmutanten (German Edition)
Beißer auf dem Gelände, aber nur einer von ihnen war uns gefolgt. Augenscheinlich suchte er nach uns, machte aber keine Anstalten, den Zaun zu erklimmen. Nach endlos scheinenden fünf Minuten verlor er schließlich das Interesse und entfernte sich.
»Er haut ab!«, flüsterte Marty.
»Ja, er gibt auf«, antwortete Ben.
»Aber wieso?«
»Er kann uns nicht mehr sehen. Vielleicht hat das seinen Trieb eingestellt.«
»Aber der Typ bei Murats Kiosk ist länger geblieben, oder? War der schlauer oder so?«
»Kann sein. Vielleicht war er auch erfahrener. Länger mutiert.«
»Du meinst, die lernen dazu?«
»Scheint so.«
Martys Kumpel hieß Eric und war ein feiner Kerl. Wir verabredeten, dass Ben und ich unser Ding durchziehen und dann Marty und Eric an der gleichen Stelle abholen würden. Eric und Marty wollten am Zaun ausharren, natürlich etwas kiffen und auf den Rest ihrer Clique warten, um sie gegebenenfalls zu sich zu holen. Der Plan schien mir vernünftig, zumal auf dem Friedhof keine Menschenseele zu sehen war. Eric hatte zudem für Getränke und Essen gesorgt, Marty hatte eine Decke in seinem Rucksack. Sie würden ein paar Stunden aushalten können.
Auf dem Weg über den Friedhof sprachen Ben und ich über Murat. Ben hatte eine Theorie über das, was er »das Kopfhörerphänomen« nannte.
»Das ist wie bei Krokodilen.«
»Krokodile?«
»Ja, verdammte Krokodile! Wenn du ein Krokodil gleichzeitig an zwei Stellen am Kopf berührst, ist es so abgelenkt, dass es vergisst, dich zu beißen. Kein Scherz! Das Gehirn der Viecher kann nicht so viele Reize auf einmal verarbeiten.«
»Und du meinst, dass laute Musik den gleichen Effekt auf die Totenmänner hat?«
»Klar! Die Sinne sind durch die Musik dermaßen belegt, dass die sonst nichts mehr geregelt kriegen.«
Wenn Ben Recht hätte, würde dies unser Vorhaben bei Egor erheblich erleichtern. Gesetzt den Fall, Murat war kein Einzelfall, würde es neue Dimensionen des Überlebens eröffnen. Wir waren inzwischen am Ende des Friedhofs angelangt und kletterten über die Friedhofsmauer. Vor uns lag Bremens Stadtteil Gröpelingen.
11 BRUDERLIEBE
Egor und Dimitri wohnten erstaunlich normal. So normal, dass Ben das Klingelschild noch einmal prüfte, bevor er auf den Knopf drückte. Ich hatte genau wie Ben etwas anderes erwartet. Fragen Sie mich nicht warum, aber irgendwie war ich davon ausgegangen, ein Koksdealer müsste entweder in einer glamourösen Umgebung oder einer heruntergekommenen, schäbigen Absteige wohnen. Aber als ich mich umschaute, sah ich Fensterbilder in Fenstern, Autos mit Kindersitzen, ein gepflegtes Straßenbild. Hier wohnten Familien mit Kindern, normale Leute. Nichts deutete darauf hin, dass hier Verbrechen begangen wurden. Egor war kein Straßendealer, der Leute an der Straßenecke anquatschte, ob sie ein wenig Spaß haben wollten. Der Mann war ein unauffälliger Geschäftsmann. Unauffällig genug, dass die Mehrheit seiner Nachbarn sicher nicht einmal wusste, dass die Unterwelt in ihre ruhige Wohngegend eingezogen war. Und besonders auffällig an der Wohngegend war: Es war Leben in den Häusern. Man konnte die Anwesenheit der Menschen spüren, zum Teil hören. Doch die Idylle war gestört. Es hatte Kämpfe gegeben: Einige Autos hatten eingeschlagene Fenster, am Bordstein nur wenige Meter entfernt klebte Blut. Das Grauen war in die Nachbarschaft gezogen. Wen störte da noch ein Bruderpaar, das seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf illegaler Substanzen verdiente?
Ben klingelte und nach ein paar Sekunden wurde der elektrische Türöffner betätigt. Wir gingen rein. Die für Altbremer Häuser typische enge Holztreppe führte uns in den ersten Stock. An der Wohnungstür begrüßte uns Hände schüttelnd ein junger Mann, vielleicht 18 Jahre alt.
»Hi! Ich bin Andrej. Und ihr seid Ben und Marek, richtig?«
Wir nickten.
»Egor hat euch vom Fenster aus gesehen und gesagt, ich soll euch zu ihm bringen.«
Andrej führte uns durch die Wohnung. Die Einrichtung war spartanisch mit einem Hang zum Nostalgischen. Egor und Dimitri mussten Stunden auf Flohmärkten, in Trödelläden und bei Ebay verbracht haben, um die Wohnung so einzurichten. Egors Büro war ähnlich stilvoll eingerichtet: Eine Sitzecke mit schwarzer Ledergarnitur, eine Hausbar aus dunklem Holz. Egor saß an einem Monster von Schreibtisch aus dem gleichen dunklen, massiven Holz - die Art von Tisch, die man für gewöhnlich als »Sekretär« bezeichnet. Als er
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