Staffel I Episode 02. Chinks! - Survivor: Staffel I - Episode 02
aber nicht als solches empfinden, weil sie kein anderes Leben kennen.«
Proctor musterte Ai mit einem Blick, den sie nicht zu deuten verstand.
»Und was denken die Chinks?«, wollte Ryan wissen.
»Ich kann ihre Gedanken nicht lesen«, sagte Maria. »Aber es gibt ein vorherrschendes Gefühl, das alles andere überlagert. Angst.«
»Angst wovor?«
»Vor uns. Diese Leute haben so höllische Angst vor uns, dass sie uns am liebsten töten würden.«
Ai hätte ihr gern zugestimmt, wäre sie nicht stumm gewesen. Sie war sicher, dass keiner von ihnen zur Erde zurückkehren würde, wenn diese ominösen »Wächter« sie erst in die Finger bekamen. Am liebsten hätte sie ihre Furcht hinausgeschrien. Sie wusste keinen Ausweg. Und so tat sie das, was sie in einer solchen Situation immer tat.
Sie wurde unsichtbar.
Irgendwo in China – 1997
Herr Liu war außer sich. Es war unfassbar: Man hatte sich über Ai beschwert, weil sie die Puppen angespuckt hatte.
Wie jeden Abend mussten die Heimkinder auch an diesem Tag im großen Schlafsaal vor ihren Betten Aufstellung nehmen, Jungen wie Mädchen, alle in einem Saal, bekleidet nur in billigen, abgetragenen Leinenhemdchen voller Flecken, die trotz des ätzenden Waschmittels, das im Heim verwendet wurde und zu Hautausschlag führte, nicht verschwanden.
Herr Liu ging die Reihen der Gefangenen ab und ließ sie auf die Kommunistische Partei und den Vorsitzenden des Volkskomitees schwören. Nur Ai schwieg, wie immer.
»Du willst nicht auf den Genossen Vorsitzenden schwören?«, brüllte Liu sie so heftig an, dass ihr sein Speichel ins Gesicht sprühte. »Du weigerst dich noch immer, dem Volk und der Arbeiterklasse zu dienen?« Er drohte ihr mit dem Zeigefinger. »Man hat mir erzählt, was du heute getan hast! Du verhöhnst jede Form von Arbeit, machst dich über uns Werktätige lustig! Aber ich werde schon noch ein nützliches Mitglied der sozialistischen Gesellschaft aus dir machen – oder dich zerbrechen!«
Wieder drosch er mit dem Rohrstock auf sie ein, den er immer bei sich trug, schlug wie besessen auf ihre nackten Arme, bis das Blut daran hinunterlief.
Ai ertrug es stoisch, obwohl ihr Tränen übers Gesicht rannen.
Schließlich brüllte Herr Liu: »Weißt du, was sie mit deinem Vater gemacht haben, diesem Hund? Der Verräter wurde hingerichtet! Sie haben ihm ins Genick geschossen! Auch deiner Mutter, dieser Hure! Sie sind tot!«
Ai starrte Herrn Liu in die schwarzen, hasserfüllten Augen und sah, dass er diesmal nicht log.
Wieder traf sie der Rohrstock, und diesmal brach Ai zusammen. Weinend ging sie in die Knie, krümmte den Rücken, verschränkte die Arme über dem Kopf, wimmerte und schniefte.
»Ab jetzt gibt es kein Essen mehr für dich, bis du endlich wieder den Mund aufmachst und auf die Kommunistische Partei und ihren Vorsitzenden schwörst.«
Aber Ai konnte nicht sprechen. Da war eine Sperre, die es ihr einfach unmöglich machte, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen. Die Laute versickerten ihr bereits in der Kehle.
Zum Frühstück gab es keinen Brei für sie. Mittagessen kannte man im Heim nicht. Auch beim Abendessen, als für alle eine dünne Reissuppe und je ein Kanten Brot ausgeteilt wurden, wurde Ai übergangen. Eines der Mädchen versuchte ihr heimlich ein Stück Brot zuzustecken, das sie sich von ihrem eigenen kargen Mahl aufgehoben hatte, doch einer Frau vom Heimpersonal fiel es auf, und das Mädchen wurde hart bestraft: Es bekam Schläge und musste die halbe Nacht in einem Bottich mit eiskaltem Wasser stehen.
Ai knurrte der Magen. Der Hunger nagte an ihren Eingeweiden. Obwohl man ihr nichts zu essen gegeben hatte, hatte sie weiterhin schuften müssen, sechzehn Stunden Sklavendienst in der Fabrik, wo sie den Verräter Mr Cheeky am Fließband zusammensetzte, wobei er sie stumm auslachte, Stunde für Stunde, Minute für Minute, bei jedem der monotonen Handgriffe, die sie ausführen musste.
Es war Nacht. Ai hörte das leise Atmen der Kinder. Hier und da flüsterte eines oder weinte leise im Schlaf.
Ai hatte keine Wahl. Sie brauchte etwas zu essen, sonst überlebte sie den morgigen Tag nicht.
Sie erhob sich, so leise sie konnte. Ihre nackten Füße berührten den eisigen Betonboden. Geduckt schlich sie auf die breite, zweiflüglige Tür des Schlafsaals mit den Milchglasscheiben zu. Dahinter war der Flur mit dem Zimmer für die Schwestern und die Aufpasser – die »Wächter«, wie die Kinder sie nannten. Die Tür stand offen. Zwei Frauen und
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