Stahlhexen
bahnte. Vor ihnen in Küstenrichtung bildete der Himmel ein breites, blaues Band unter einer grauen Wolkenschicht. Die Schnellstraße lief geradewegs darauf zu: ein langer, gerader Weg, der sie in die Zukunft führte. Er nahm das Kinderfoto, auf dem er zusammen mit seiner Mutter zu sehen war, aus der Parkatasche und strich es glatt. Er erinnerte sich an die Vergrößerung des Fotos, die an Daisy Seagers Pinnwand gehangen hatte - sein Kindergesicht, zu einem Raster überdimensional großer Bildpunkte aufgebläht. Er begriff noch immer nicht, was Daisy damit bezweckt hatte.
Er steckte das Foto in die Innentasche zurück, wo es wieder seinem Herzen ganz nah war. Sie passierten die Stadt Ely - vor ihnen ragte die Kathedrale auf, mit unzähligen
Möwen auf dem Dach, und verschwand gleich darauf wieder im Rückspiegel. Danach erreichten sie weiter im Westen Gebiete, die nicht mehr nur etwas unter Wasser standen, wie sie es bisher gesehen hatten. Über die ebene Landschaft hinweg sah man bis zum Ouse Wash, einem Überflutungsgebiet zwischen zwei Entwässerungskanälen, das bei Hochwasser die Flut aus den Kanälen auffangen und so die umliegende Landschaft schützen sollte. Heute waren die Dämme zu beiden Seiten an mehreren Stellen durchbrochen - und große, ovale Seen, in denen umgerissene Bäume und abgerissene Äste schwammen, breiteten sich dunkel über Äcker und Wiesen aus. Mia fuhr langsamer, weil der Verkehr sich verdichtete, und Fletcher nahm seinen Feldstecher zur Hand und betrachtete in der Ferne ein Städtchen, das von allen Seiten vom Hochwasser eingeschlossen war. Ein Supermarkt auf der grünen Wiese stand halb unter Wasser, und in manchen Straßen hockten die Leute schon auf den Hausdächern. Als der Cossack nur noch schlich, drehte Fletcher sich um und bemerkte zwei Chinook-Helikopter der Armee, die über ihnen flogen und mit ihren Luftverwirbelungen Wasserwellen über die Straße fegten. Er suchte mit dem Fernglas den Horizont ab. Auch an anderen Stellen gab es Wellen, aber die hatte der Wind aufgewühlt - und das war kein sanftes Gekräusel, sondern echte Brecher mit weißen Schaumkronen. Es war Vormittag, aber so dunkel, als bräche schon die Abenddämmerung an.
Er bemerkte ein kleineres Flugzeug, das tief über dem Wasser flog: ein ziemlich ungewöhnliches Modell, eine Art windschnittiger Einsitzer, aber ohne Blinklichter.
An einer Stelle, wo das Wasser über die Straße strömte, mussten sie anhalten und warten, während die Wagen vor ihnen versuchten, das Hindernis zu umfahren oder langsam hindurchzurollen. Diese Wartezeit war die reinste Folter. Da hockte er, blickte auf die Wolken im Osten und wusste, dass
Aspen entweder schon am Ziel war oder sich dem Ort zumindest näherte, an dem Fletchers Mutter war.
Er sah Mia an. Sie war hochkonzentriert und hatte eine kleine Furche zwischen den Augen. Dazu die hohen Wangenknochen und ein paar Sommersprossen auf den Wangen, die ihm vorher gar nicht aufgefallen waren.
»Lass mich mal fahren«, sagte er.
»Ich komme zurecht.«
»Wir müssen weiter.«
»Weißt du vielleicht, wie wir an all diesen Wagen da vorbeikommen sollen?«
Sie steckten mitten im Stau - ein Knäuel von Autos, das die vierspurige Autobahn blockierte. Manche Fahrer versuchten ihre Autos mit zwei Rädern auf der grasbewachsenen Böschung vorwärtszutreiben, vergrößerten das Chaos damit aber nur. Er ließ das Fenster zwei Finger breit herunter und hörte Geschrei, Gehupe, Gebrüll und dann von irgendwo weiter hinten etwas, das wie ein Schuss klang. Dann heulte ganz in der Nähe ohrenbetäubend eine Polizeisirene auf.
Ein Landrover mit blauem Blinklicht bahnte sich einen Weg durch das Chaos, und unmittelbar neben ihnen ertönte die Lautsprecherdurchsage: »Bitte wenden Sie und fahren Sie nach Süden.« Fletcher sah, dass Mia versuchte, trotzdem geradeaus weiterzufahren. Da schnellte eine geballte Faust aus dem Polizeiwagen und hämmerte an Fletchers Seitenfenster.
Er blickte ins Gesicht eines mürrischen Constable in Leuchtjacke. Fletcher blieb ganz ruhig, kontrollierte seine Gesichtszüge und ließ das Fenster herunter. Der Polizeibeamte blickte finster und spähte in den Wagen. »Sind Sie taub? Die Straße ist gesperrt«, sagte er. Feuchter Schnurrbart und saurer Atem.
Mia beugte sich zum Fenster herüber. Sie sah nicht aus wie eine Frau ohne Visum und mit einer kroatischen Pistoleunter dem Sitz. Und sie fühlte sich auch nicht so an, als ihr Busen an seine Schulter drückte und
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