Stahlhexen
dem sich deutlich eine Gestalt abzeichnete: ein kräftiger älterer Mann im Mantel.
»Die Polizei geht davon aus, dass der Tote - dessen Name noch nicht veröffentlicht wurde - den Club in Miss Seagers Wagen verlassen hat«, sagte der Nachrichtensprecher.
Als Nächstes kamen drei kurze Sequenzen, in denen nicht viel zu erkennen war - nur die vereiste Windschutzscheibe des Golfs, die an einigen wenigen Stellen hastig freigekratzt worden war: zwei lange, diagonale Streifen, auf Höhe der Augen von einem dritten waagerechten gekreuzt, der aber kaum ausreichte, um die Fahrbahn erkennen zu können. Dann bog der Wagen auf die geteerte Zufahrtsstraße ab. Die letzte Aufnahme zeigte ihn von der Fahrerseite - wieder war die Seitenscheibe gründlicher von Eis befreit worden -und dort saß eine junge Frau mit blondem Haar, die sich angestrengt vorbeugte und durch die notdürftig freigekratzte Windschutzscheibe spähte.
oo:o6:11.
Alles in allem sechs Sekunden. Der weiße Golf musste über den knirschenden Schnee der Zufahrtsstraße gerollt sein und eine halbe Minute später die Stelle am Rand des Steinbruchs erreicht haben.
So also war das. Sie sind zusammen losgefahren. Und einer der beiden - oder vielleicht auch beide - hat sich sogar die Zeit genommen, die Scheiben freizukratzen.
Als Letztes sah man einen Appell von Detective Inspector Franks. Er stand vor einer gemauerten Wand, der Wand des Presseraums, wie Fletcher aus seinen Dienstjahren in der Parkside Police Station wusste.
»Für unsere Ermittlungen müssen wir unbedingt mit Daisy sprechen«, sagte Franks. Er blinzelte. »Und das liegt auch in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse.« Damit endete die Nachricht und es folgten Verkehrshinweise: Straßen waren gesperrt worden, Züge fielen aus und Schneepflüge räumten die Start- und Landebahnen der Flughäfen frei.
Fletcher stellte den Ton wieder leiser. Er war ganz allein in dem Feinkostladen, die Bedienung war in der Küche mit dem Abwasch beschäftigt, und auch draußen waren nur wenige Passanten unterwegs.
Nathan Slade hatte gesagt, dass er sie warnen müsse. Wovor? Vor Hexen?
Hatte Nathan nach seinem Rausschmiss vor der Tür auf Daisy gewartet? Hatte sie ihn in ihren Wagen einsteigen lassen, um mit ihm zu sprechen? Waren die beiden im Golf erneut in Streit geraten? Hatte sie ihn aufgefordert, auf der Stelle auszusteigen? Hatte er sie am Haar gepackt, war gegen die Schranke gestoßen und hinuntergestürzt? War es ein Unfall gewesen und hatte er einfach das Letzte, was er zu fassen bekam, mit der Faust umklammert, bis der Stahlträger sich in seinen Unterleib bohrte?
Dies waren die Fragen, die die Polizei sich stellte.
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Doch Fletcher fragte sich etwas ganz anderes. Worüber genau hatten die beiden im Wagen eigentlich gesprochen? Er brach auf, überquerte die Green Street und kehrte in sein Büro zurück.
Manche Leute hinterlassen viele Spuren im Internet, Hunderte. Zu dieser Sorte gehörte Daisy Seager offensichtlich nicht. Auf den Nachrichten-Webseiten war sie natürlich zu finden: Polizei auf der Suche nach verschwundener Sex-Studentin. Da waren Fotos ihres Gesichts sowie Standbilder des Golfs, wie er vom Parkplatz fährt. Auch ihre Adresse wurde genannt - eine Straße in Newnham, einer gepflegten Vorstadt von Cambridge, die in der Nähe des Felwell College lag. Und ein Foto des Felwell College selbst war zu sehen: der riesige Laborbau von 1970, der sich hinter der Fassade des ursprünglichen Gebäudes aus den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts emporreckte. Daisys Story fand viel Aufmerksamkeit in den Medien - natürlich nicht so wie das Wetter, aber das Interesse war da. Wenn erst die Identität des Toten - und sein Arbeitgeber - bekannt sind, kommt bestimmt noch was nach, dachte Fletcher. Waffenproduzent von Sex-Studentin in den Tod gestürzt: Er sah die Schlagzeile fast schon vor sich. Doch abgesehen von der Nachricht über ihr Verschwinden hatte Daisy Seager kaum Spuren im Internet hinterlassen.
Ein Mädchen ihres Namens hatte vor zwei Jahren an einer Highschool im Bezirk Cambridge in einer Theateraufführung zum Schulabschluss mitgewirkt und hatte außerdem als Jahrgangsbeste ein Stipendium als Nachwuchsphysikerin des Jahres erhalten. Auf der Webseite des Felwell College war sie nur als Vorsitzende des Salsa-Tanzvereins zu finden. Daisy wirkte wie die perfekte Studentin: Ein Mädchen, das an alles, Arbeit und Freizeit, immer mit ganzem Einsatz herangeht. Warum aber dann der Job als
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