Stahlhexen
den abgenutzten Sofalehnen, der Weltkarte an der einen Wand und der Detailkarte Cambridgeshires an der anderen verweilte.
»Wir haben Sie absichtlich in Ihrem eigenen Büro aufgesucht, um ein besseres Gefühl für Ihre persönliche Art zu bekommen«, sagte sie. »Dafür, wie Sie an die Dinge herangehen.«
»Nun, jetzt wissen Sie, wie es bei mir aussieht.«
Sie nickte. »Einige Ihrer Mitbewerber um diesen Vertrag leiten große Büros. Sie haben Mitarbeiter und so weiter.«
Er lächelte. Sie erwiderte das Lächeln.
Ihr Begleiter sagte: »Sicher, wir haben Bewerber besucht, die größere Büros besitzen. Aber wir wollen jemanden, der, wie soll ich es ausdrücken? Der von hier ist. Der sich in Cambridge auskennt und weiß«, er breitete die Arme aus, »wie wir hier ticken. Mir scheint, dass Sie da unsere Kriterien erfüllen. Außerdem ist es wichtig, dass unser Mann konstruktiv mit der hiesigen Polizei zusammenarbeitet. Daher interessieren wir uns für Ihren Hintergrund. Darüber haben Sie uns eigentlich noch nichts berichtet - vermutlich haben Sie noch immer Kontakte?«
Fletcher breitete ebenfalls die Arme aus. Und dabei beließ er es vorläufig.
Er sagte nicht: Ich war ein Star, ein ehrgeiziger Detective Inspector. Die Polizei war für mich die Familie. Dann aber, in einem sengend heißen Sommer vor zwei Jahren, bin ich auf einige Familiengeheimnisse gestoßen - habe ein paar uralte Leichen im Keller gefunden. Dafür musste ich zahlen. Jetzt misstraut die Polizei mir und ich werde ihr meinerseits nie wieder vertrauen.
Beim Hinausgehen sagte die Frau: »Wir würden Sie gerne noch einmal für ein längeres Gespräch zu uns bitten. Diese Woche, vielleicht Mittwoch oder Donnerstag.«
»Beide Termine sollten sich einrichten lassen.«
Er begleitete sie die Treppe hinunter und bis zur Haustür. Als er aufmachte, wehte von der Green Street ein kalter Windstoß herein. Sie gaben sich zum Abschied die Hand und er sah den beiden nach, wie sie über den gefrorenen Schnee davongingen.
Dieser Auftrag ist wirklich enorm wichtig für mich, dachte er.
Sein Magen knurrte - er hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen. Weil das Fenster des Feinkostladens gegenüber auch jetzt, kurz nach Mittag, noch von Essensdampf beschlagen war, ging er hinüber, aß eine heiße Tomatensuppe und schaute dabei die Regionalnachrichten im Fernseher auf der Theke. Man sah im Wasser steckende Autos in Großaufnahme und angeschwollene Flüsse. Dann plötzlich eine Aufnahme des Hostessenclubs - die Holz-Glas-Fassade vor dem Hintergrund der verschneiten Felder.
Er stellte das Gerät lauter.
Nach dem Fund einer Männerleiche in einer Kiesgrube bei Cambridge möchte die Polizei so schnell wie möglich mit der zwanzigjährigen Daisy Seager sprechen.
Die Aufnahme einer jungen Frau: ein energisches, hübsches Gesicht. Harte, dunkle Augen - vielleicht grün. Langes, blondes Haar.
Das also war die Hostess. Sie tat ihm leid.
Fletcher betrachtete sie durch den heißen Dampf, der von seiner Suppe aufstieg, und spürte, wie die Mahlzeit ihm den Magen wärmte.
Daisy Seager ist Studentin am Felwell College.
Fletcher stellte die Suppe weg. Wie bitte? Am Felwell College! Das war immerhin weltbekannt. Es war das einzige College in Cambridge, zu dem ein Labor gehörte. Dort war in den dreißiger Jahren die erste Atomspaltung gelungen.
Der Nachrichtensprecher erläuterte, dass Daisy Seager einen weißen Golf fahre, und nannte das Kennzeichen. Flet-
37eher, der die Buchstaben- und Ziffernfolge auf einer Papierserviette notierte, fand diese Information fast noch erstaunlicher. An den Colleges von Cambridge wurde es nicht gern gesehen, dass Studenten jobbten oder Autos besaßen. Doch dieses Mädchen hatte sich nicht abhalten lassen. Fletcher sah wieder hoch. Im Fernsehen wurden jetzt Bilder der Überwachungskamera des Hunters-Clubs gezeigt. Es war eine körnige, blaustichige Aufnahme des Parkplatzes, mit der Uhrzeit unten links: 00:06:05. Kurz nach Mitternacht. Die Stunde der Geister und Hexen.
Der erste Ausschnitt zeigte, wie schleppend das Geschäft an diesem Abend im Club ging: Kaum ein Viertel der Parkplätze war belegt, die Windschutzscheiben der Wagen waren bereits vereist und Menschen weit und breit nicht zu sehen. Dann der nächste Ausschnitt: In der einen Ecke tauchte ein weißer Golf auf und fuhr von rechts nach links quer durchs Bild. Die Aufnahme zeigte das Auto von der Seite und ließ ein überwiegend freigekratztes Beifahrerfenster sehen, an
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