Stahlhexen
Hostess ? War das Studentenleben so teuer? Hatte sie so dringend Geld ge-
braucht, dass sie selbst in eisig kalten Nächten in den Club fuhr?
Auch über Nathan Slade war im Internet nicht viel zu finden. Die Webseite der Bellman Foundation war eine auf Hochglanz polierte Zusammenfassung der Firmenprojekte, die von Kampfflugzeugen bis zu Radaranlagen und bodengestützten Waffensystemen reichten. Der Jahresumsatz belief sich auf 28 Milliarden US-Dollar. Der Wert einer Aktie war mit 95 US-Dollar notiert. Nathan war Geschäftsführer von Bellman Europe gewesen, das seinen Sitz in Cambridge hatte.
Fletcher dachte wieder an die Rolex und die American Express Gold Card. Das sah ganz nach einem hochrangigen Manager aus - durchaus der Typ, der gerne einmal einen frostigen Sonntagabend in einem erstklassigen Hostessenclub verbringt. Aber wieso war er zuerst nach Wilbur Court gefahren, um sich mit Jack Fletcher zu unterhalten? Und über was zum Teufel hatten die beiden geredet?
»Wir müssen ihn töten, Tom.«
Der Name Nathan Slade tauchte ansonsten nur noch ein einziges Mal im Internet auf. Und zwar auf einer Webseite von ehemaligen Angehörigen der Royal Air Force - hier wurden Kameradschaftstreffen organisiert und Neuigkeiten über alte Kameraden ausgetauscht. In dem Eintrag erkundigte sich jemand nach einem ehemaligen Angehörigen der United States Air Force, der in den siebziger Jahren auf der Air Force Airbase von Alconhurst nahe Cambridge stationiert gewesen sei. Der Offizier war als Mann in Erinnerung geblieben, der gerne und oft Umgang mit seinen britischen Kollegen gehabt hatte. Gesucht wurde nach dem Air-Force-Offizier Nathan Slade.
»Was für ein Kerl. Überlebensgroß im wahrsten Sinne des Wortes. Hat irgendjemand eine Ahnung, wo er heute steckt?«
Ob es sich um denselben Nathan Slade handelte? Das
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Alter stimmte und auch eine Verbindung zu Cambridge war da. Vielleicht war Nathan Slade von der Air Force zu Bellman gewechselt und schließlich nach Cambridge zurückversetzt worden.
Fletcher druckte alle Fundstellen aus und breitete die Seiten auf seinem Schreibtisch aus. Der große, korpulente amerikanische Manager, ehemaliger Air-Force-Offizier, ein Mann Ende Fünfzig. Und die schöne Nachwuchsphysikerin des Jahres, die gerne Salsa tanzte, eine Zwanzigjährige. Irgendetwas hatte sich zwischen den beiden ereignet - etwas, das auch Jack Fletcher anging und ihn veranlasst hatte, zum ersten Mal seit achtzehn Jahren zum Telefon zu greifen und seinen Sohn anzurufen.
Fletcher ging noch einmal die Nachrichten auf seinem Bildschirm durch. Noch immer lief das Wetter allen anderen Storys den Rang ab. Es sah so aus, als sollte John Rossi mit seiner unerfreulichen Prognose recht behalten: Die Kälte würde laut Wettervorhersage nur noch einen Tag andauern. Nach kurzem Aufklaren würden dann Regen und Sturm aus Osten hereinbrechen. Satellitenaufnahmen von Kontinentaleuropa zeigten ein gewaltiges Tiefdruckgebiet mit spiralförmigen, grau-schwarzen Wolkenwirbeln.
Manchmal würde man auch einen Menschen gern so detailliert vor sich sehen: nicht nur das erkennen, was man unmittelbar vor Augen hat, sondern all das, was hinter der Fassade versteckt ist, all die Spuren, die ein Mensch wirklich hinterlässt. Das bedeutet normalerweise, dass man mit den Leuten reden muss, die diese Menschen kennen. Fletcher konnte sich denken, dass man bei Bellman inzwischen Bescheid wusste und wegen des zu erwartenden Medieninteresses den Mund halten würde. Er sah sich Daisys Adresse noch einmal an. Sie hatte bestimmt Mitbewohner oder Freundinnen und Freunde, Tanzpartner und vielleicht gab es sogar irgendwo einen festen Freund. Und alle wür-
den sich fragen, warum sie mit einem Mann losgefahren war, den sie als Hostess in einem Club kennengelernt hatte.
Fletcher ging das Wählerverzeichnis durch und fand Daisys Hausnummer. Zu Fuß waren es dreißig Minuten, aber ein Spaziergang würde ihm guttun. Also zog er wieder den Parka über und ging aus dem Haus.
Granny hat gesagt, in der Nacht habe es einen Aufruhr gegeben. Gussy Salter und die beiden anderen Frauen auf der Liste waren in dem großen Haus eingesperrt worden, das heute unser Haus ist.
Die Manner, hat Granny gesagt, wurden in die anderen beiden Häuser gesperrt. Heute stehen diese Häuser natürlich nicht mehr. Damals gab es keine Schlösser an den Türen, aber man hatte Fässer davor gerollt, und an den Fässern lehnten die Männer des Hexenjägers und tranken
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