Stahlhexen
erzählte er ihr davon. Von dem schönen, sonnigen Vormittag, als er zehn war. Sie waren zu Hause in ihrem
Häuschen auf dem Luftwaffenstützpunkt Alconhurst. Und dann stand an jenem Tag plötzlich ein englisches Ehepaar vor der Tür. Cherelle, seine Mutter, hatte die beiden aus irgendeinem Grund erwartet, sich hübsch angezogen und zurechtgemacht, und der Kaffee stand schon bereit. Cherelle und die englische Frau hatten einander lange angesehen, ohne ein Wort zu sagen. Hatten dagestanden und einander angeschaut, als suchten sie irgendwas im Gesicht der anderen. Nathan und der Engländer waren verlegen in den kleinen Garten hinter dem Haus gegangen und hatten sich dort auf die Plastikstühle gesetzt. Von seinem Zimmer oben im ersten Stock hörte Aspen eine langweilige Unterhaltung über Heimatorte, Urlaube, Flugzeuge und Autos mit an. Sinnloses Gerede.
Worüber die beiden Frauen sich wohl unterhielten ?
Aspen sah es immer noch vor sich, wie er damals als Zehnjähriger zur Tür des Wohnzimmers im Erdgeschoss gegangen war, wo Cherelle und diese Kate Fletcher saßen. Die Tür war geschlossen, aber der Geruch von Kaffee und dem Zigarettenrauch seiner Mutter drang nach draußen. Und die Stimmen, die Stimmen der Frauen. Seine Mutter, wie sie sagte: »Das kann einfach nicht wahr sein. Ich kann es nicht glauben.«
»Aber es ist so, Cherelle. Ich habe Jahre gebraucht, um herauszufinden, was damals wirklich passiert ist, und diese Geschichte Stück für Stück zusammenzusetzen. Und dann noch einmal Jahre, um dich zu finden - um dich in alten Unterlagen und Dokumenten aufzuspüren. Und jetzt habe ich dich gefunden. Du musst uns doch nur anschauen. Jeder kann sehen, dass es stimmt. Freust du dich denn nicht?«
Cherelle erwiderte eine Weile gar nichts, dann fragte sie: »Wie? Wie ist es denn so weit gekommen?«
Aspen machte die Tür lautlos einen Spalt weit auf. Da saß diese Kate Fletcher, dieses Wesen, das aus dem Nichts gekommen war, und hielt die Hand seiner Mutter. Aspenhörte die ganze Geschichte mit an, die Kate Fletcher zu erzählen hatte. Einen Teil davon las sie vor, das merkte er. Sie las den Text von ein paar maschinengeschriebenen Seiten ab. Es war eine lange Geschichte, die vor Jahrhunderten damit anfing, dass ein Mann mit schwarzem Hut in ein englisches Dorf kam und die Frauen über die Felder wegrannten, um ihm zu entkommen und dem, was er ihnen antun wollte. Und Aspen lauschte durch diesen Spalt in der Tür und nahm jedes einzelne Wort in sich auf. Diese Geschichte sickerte Tropfen für Tropfen in ihn ein und wurde von seinem Blut im ganzen Körper verteilt, bis er durch und durch krank war.
Bis er sagte: Oh, ja. Genau so bin ich auch. Ich verabscheue Mädchen.
Bis er kapierte, wer und wie er wirklich war.
Bis er zu dem Mann wurde, der er heute war.
Und hier saß er jetzt im Jeep, schrie seine Worte heraus und versuchte, lauter zu brüllen als der Sturm, der heulend durch die zerborstenen Scheiben fuhr. Er griff tief in seine Brusttasche und riss die Aussage heraus, diese verfluchten getippten Seiten, die Kate Fletcher an jenem sonnigen Vormittag mitgebracht hatte. Jetzt war die Zeit gekommen, sie zu vernichten und sich zu befreien. Er übergab sie dem Wind, und der riss sie ihm aus den Fingern, wehte sie über das Gras von Hexland und wirbelte sie hoch in die Luft, bis sie einfach verschwanden. Lachend sah er ihnen nach. Jetzt fühlte er sich besser, sauberer, ein Stück weit entgiftet. Er wischte sich den Mund.
Jetzt ging es nur noch um den allerletzten Schritt.
Er wusste, wenn er Kate Fletcher tötete, wäre alles vollendet und er wäre vollkommen frei.
Mia Tyrone starrte ihn an. Sie hatte die eine Hand um die Pistole gelegt, mit der anderen hielt sie den Türgriff fest. Also zog Aspen einfach an seinem eigenen Türgriff, überließ die Tür dem Sturm, der sie ihm krachend aus der Handriss, und ließ sich aus dem Jeep auf den Boden fallen, wo die Gewalt des Orkans ihm fast den Atem verschlug. Er robbte um den Jeep herum und drückte sich flach an die Wand des alten Hohlwegs. Der Sturm tobte über ihn hinweg, und im Moment war dies der beste Platz von allen. Er sah, wie die andere Tür aufging und diese Tyrone sich ebenfalls ins Gras fallen ließ und zu ihm hinüberrobbte. Vom Sturm gepeitscht flatterten Haar und Regencape hinter ihr her. Sie schaffte es und legte sich ganz in seiner Nähe auf den Rücken. Sie hatte noch immer die Pistole in der Hand, wirkte aber benommen.
Dann riss die Wagentür
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