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Stahlhexen

Stahlhexen

Titel: Stahlhexen Kostenlos Bücher Online Lesen
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rausgeworfen. Draußen passt er sie ab, hier bei der Schranke kommt es zu einer Art Kampf, er packt sie am Haar und wird über den Rand gestoßen oder stürzt von allein hinunter. Und das Mädchen irrt jetzt irgendwo da draußen herum, vermutlich in Panik oder auch in der Hoffnung, dass keiner sie mit der Sache in Verbindung bringt.
    Eine traurige kleine Geschichte eben.
    Aber wieso hat sein Vater, Jack Fletcher, davon gewusst?
    Wieso hat sein Vater ihn aufgefordert, diesen Mann zu töten?
    An der gegenüberliegenden Wand des Steinbruchs baumelte das Förderband vom Gestell herunter und schwang lose im Wind: ein lang gezogenes Knarzen, dann ein Schlag gegen das Stahlgestell, dann ein nachhallendes Echo. Knarzen, Schlag, Echo: dazwischen immer ein paar Sekunden. Beim fünften Schlag beschloss Fletcher, etwas zu tun, was er achtzehn Jahre lang vermieden hatte.
     

Er entschied sich für die Hauptverkehrsstraßen: Die waren frisch gestreut, der Schnee war geräumt und der Straßenbelag schimmerte dunkel im aufsteigenden Dunst. Die Nebenstraßen waren immer noch vom über Nacht gefallenen Schnee bedeckt, und hier und da sah man auch ein verlassenes Fahrzeug herumstehen. Einmal hielt er an, um die Düsen der Scheibenwaschanlage mit der Hand zu enteisen. Das Wetter wurde trüber und von Norden zog es grau heran, was bedeutete, dass es am Nachmittag wohl regnen würde.
    Er schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr eine Weile auf dem Mii Motorway, der jetzt allerdings nur noch je eine Spur hatte. Zwischen hohen Böschungen rollte der Verkehr unter dem immer finsterer werdenden Himmel langsam dahin. Genau die richtige Umgebung, um Tom Fletcher an seinen letzten Besuch bei seinem Vater zu erinnern, damals in diesem möblierten Zimmer an der Union Road. Er sah geradezu vor sich, wie Dad seine Zigarettenasche in die Spüle schnipste.
    Du sagst also, dass du mich nie wieder besuchen willst?
    Nicht nach dem, was du getan hast.
    Ich habe ihr nie ein Haar gekrümmt, Tom. Das musst du mir glauben.
    Ich glaube dir aber nicht, Dad.
    Aus dem Nachbarzimmer drang das Gedudel eines Radios durch die Wand.
    Ich habe ihr kein Haar gekrümmt. Und was ist ihr dann zugestoßen? Verkehrslärm. Das kann ich dir nicht sagen. Leb wohl, Dad.
    23
     

Montagmittag
    Hier also lebte sein Vater jetzt. Im Wilbur Court - einem zweigeschossigen Backsteingebäude, das in der Nähe von Madingley recht abgelegen in einem Nadelwald lag. Das Haus beherbergte ältere Männer, die mit der Reizüberflutung einer allzu dynamischen Umwelt nicht mehr klarkamen, und gewährte ihnen - nicht nur räumlich - eine Zuflucht vor den Anforderungen der modernen Gesellschaft. Heute ließ wenigstens der weiße Schneemantel die Bäume in dem trüben Mittagsgrau leuchten, und der Parkplatz war voll Pfützen und verklumptem Schneematsch. Durch die roten Fenstervorhänge sickerte jedoch gemütliches Lampenlicht und die Eingangshalle war gut geheizt. Dort saß eine weibliche Pflegekraft, die eine polnische Zeitung zuschlug und ihn mit ihren grünen Augen musterte. Er kannte sie zwar nicht, doch nach einem Blick auf die Zeitung sagte er:
    »Dzieh dobry.«
    Ein paar Kenntnisse in der einen oder anderen osteuropäischen Sprache konnten sich für einen Privatdetektiv als sehr nützlich erweisen. Die Leute, die oft am meisten wussten - Pflegepersonal, Sicherheitsleute oder Kellner und Zimmermädchen -, schätzten es, wenn er sich diese Mühe machte.
    »Dzieh dobry. Czy mogq panu w czyms pomóc?« »Nach dem >Guten Tag< hab ich leider nichts mehr verstanden.«
    »Wollen Sie jemanden besuchen?« »Meinen Vater, Jack Fletcher.«
     

»Jack? Der ist nicht hier. Er ist schon früh am Morgen weggegangen.«
    »Um wie viel Uhr?«
    »Gegen sieben. Meine Schicht hatte gerade angefangen.« »Hat er gesagt, wohin er geht?« »Nein. Er redet nicht viel, Ihr Vater.« »Wie ist er aufgebrochen?«
    »Zu Fuß. Er hatte einen kleinen Rucksack dabei.« Sie runzelte die Stirn. »Ich hab Sie hier noch nie gesehen.«
    »Ich komme nicht zu Besuch.«
    »Ich meine, ich bin schon zwei Jahre hier...«
    »Ich habe meinen Vater noch nie besucht. Wir reden nicht mehr miteinander.«
    Sie sah ihn gelassen an. Sie war Polin: Generationen von Männern, die aus dem Schnee ins Haus gestapft kamen und komisches Zeug redeten, hatten sie gelehrt, mit so etwas umzugehen. Sie sagte einfach nur: »Jetzt schneit es wieder.«
    Draußen, hinter der beschlagenen Fensterscheibe, trieben wieder Flocken an den Nadelbäumen

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