Stahlstiche
Nazis unpassender Gelegenheit. Das ist ein brisant fabelhafter Einfall, changierend zwischen Karl Valentin und Charlie Chaplin, zum Weinen komisch. Ich sehe und höre Otto Sander uns einen kurzen Abend lang das Hirn mit diesem Entlarvungs-Gebelfer martern, ein vokabulärer Zahnarztbohrer, der den Nerv trifft, von so peinigender wie banaler Schonungslosigkeit.
Und was tut Hochhuth? Er verwässert seine Giftspritze. Er frönt seinem Laster – bekannt aus den zu kleinen Essays ausufernden Regieanweisungen vieler seiner Stücke –, daß ihm immer noch etwas einfällt: bei jedem König die Sottise einer Maitresse; bei jedem Staatsmann ein Nachäffer; bei jedem Unhold sein Sekretär Wurm. Hier nun, bei Stichwort Irrenhaus – bewacht von SS -Schergen –, fiel ihm Jakob van Hoddis ein, der frühexpressionistische Lyriker, Dichter des berühmten «Weltende», das noch in seinen Erinnerungen der greise Johannes R. Becher «damals unsere Nationalhymne» nannte. Prompt funktioniert das nicht: nicht dramaturgisch, weil man mit dieser hinzuaddierten Figur nichts anfangen kann; nicht politisch-moralisch, weil man – glaube ich – das grausige Schicksal dieses bedeutenden Dichters, längst im Wahn versunken und von den Nazis als «unwertes Leben» umgebracht, nicht «auch noch erzählen» darf. Jakob van Hoddis ist kein «auch noch». Es kommt mir vor, als läse/sähe ich ein Stück über das KZ Oranienburg, und, «eingeschnitten» wie in unserer verruchten Fernsehjauche, würde für dreieinhalb Minuten Erich Mühsam auftauchen, den seine Folterer über dem Klo erhängten.
Derlei tut nicht nur dem Opfer Unrecht – auf geheimnisvolle Weise, so kompliziert funktioniert Kunst, entlastet es die Täter. Rolf Hochhuth ist der eigenen, wohl gemerkt: großartigen Idee in den Arm gefallen. Das oft zitierte Kunstgesetz – stammt es von Courbet? –, es müsse zwischen einem Apfel und dem Tisch, auf dem er liegt, ein hauchdünnes Millimeterstel «Nichts» bleiben, anders es kein Bild würde, sondern nur «Platsch, ein Apfel auf dem Tisch»: dieses artistische Gesetz will und will Hochhuth nicht einsehen; auch nicht, falls ich das als langjähriger Weggefährte hinzufügen darf, in nächtelangen Gesprächen.
So bleibt er ästhetisch störrisch, nennt eine Uniform «hühnerbraun» ohne Nachdenken, daß es Hühner vieler Farben gibt, lässt aus dem Volksempfänger – der eben dies nicht empfangen konnte – BBC -Nachrichten abhören oder versucht (in einem Theaterstück!) mit einem Nebensatz Franz Werfel zu widerlegen. Kein Lektor weit und breit. Doch wenn dieser Schriftsteller seine noch immer und immer wieder vorhandene Kraft sammelt, die für ihn so spezifische Energie – zusammengesetzt aus Trauer, Lebenszittern und der Fähigkeit, streicheln zu können – bündelt: dann gelingt ihm Gültiges. Es ist gewiß kein Zufall, daß über fünf eindringlichen Gedichtzeilen der Satz steht «Zynismus ist nie das letzte Wort»; den Satz lösen dann die Zeilen ein:
Befreit
Warum?
Die Friedhöfe liegen …
Grabsuche
Melancholie.
*
Der falsche Feind
Plädoyer für Rolf Hochhuth
Paul Spiegel, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat wirklich alles Recht der Welt, empfindlich zu sein, auch überempfindlich; er hat sogar gewissermaßen die Pflicht. Weht doch noch immer und immer wieder aufs neue ein übles Rüchlein durchs Land – und, wie jedermann weiß, bleibt es nicht immer beim Rüchlein. Zu oft folgen ruchlose Taten. Ein Dunst von Antisemitismus, nicht immer leicht «greifbar», wabert durch das vereinte Deutschland, und dem zu wehren ist unser aller Gebot.
Aber in dem Schriftsteller Rolf Hochhuth hat Paul Spiegel sich den falschen Feind ausgespäht. Man soll dessen Arbeit nicht einschränken auf das Drama «Der Stellvertreter», das die Weltöffentlichkeit wachrüttelte über die Versäumnisse des Vatikans während der Judenverfolgung im Dritten Reich; zahlreiche historische Studien haben inzwischen Hochhuths Vorwurfsthese bestätigt; sogar der Papst entschuldigte sich: Den Samen legte Rolf Hochhuth.
Doch könnte man, wäre man übelwollend, das als «Jugendstück» abtun, dessen Impetus der Autor nicht treu geblieben sei. Das wäre falsch. Hochhuths gesamtes Werk – ob die Erzählung «Eine Liebe in Deutschland», ob das jüngst entstandene, tief bewegende Gedicht «Drei Schwestern Kafkas», das an die drei ermordeten Frauen erinnert und dem er mahnend die Namen von sechs Vernichtungslagern
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