Stahlstiche
in der Nacht zum 28 . Februar 1933 , wurden alle Redner dieses Abends verhaftet. Ossietzky, gewarnt durch den SA -Diener Harry Graf Kesslers, nach einer bis tief in die Nacht währenden Diskussion, floh nicht. Die Mischung aus Stolz und Hilflosigkeit verrät auch, nach wie vor, tiefstes Nicht-Verstehen der Ereignisse.
In seiner knarzigen preußischen Haltung hatte Ossietzky vor, während und nach seiner ersten Haft keinen von denen zu schonen, auf deren Gnade er allenfalls angewiesen war – nicht den Reichswehrminister, nicht den Innenminister, nicht vor allem Hindenburg; wer Hindenburg wählt, wählt Hitler, war während des Wahlkampfs 1932 deutlich Ossietzkys Erkenntnis und Parole:
Da kein sozialdemokratischer Kandidat vorhanden ist, muß ich schon für den kommunistischen stimmen. Wahrscheinlich werden viele, die ähnlich denken, ebenso handeln. Man muß festhalten: Die Stimme für Thälmann bedeutet kein Vertrauensvotum für die Kommunistische Partei und kein Höchstmaß von Erwartungen. Linkspolitik heißt die Kraft dort einsetzen, wo ein Mann der Linken im Kampfe steht. Thälmann ist der einzige, alles andre ist mehr oder weniger nuancierte Reaktion.
Es ist atemabpressend, diese verhängnisvollen Monate, ein auf den Abgrund zurasendes Rad, im Spiegel von Ossietzkys Analysen zu verfolgen: Man ertappt sich dabei, zu denken: «Hört denn keiner zu – liest denn keiner? Denkt denn keiner?»
Doch als Carl von Ossietzky in den Verliesen des KZ verschwand, sah auch (fast) keiner hin. Ja: die KZ , von denen bis auf den heutigen Tag geschwafelt und weißwäscherisch gesagt wird: «Davon wußten wir nichts.» Die das sagen, hatten sich offenbar entschieden. Sie fragten nicht, wo Erich Mühsam geblieben war, und sie lasen keine ausländischen Zeitungen, in denen ausführlich Ossietzkys Fall dargestellt war, zumal alsbald eine weltweite Kampagne für die Verleihung des Friedensnobelpreises an ihn begann: Man beschränkte also seine Lektüre auf den «Berliner Lokal-Anzeiger», der am 24 . Mai 1933 wußte: «Die Häftlinge leben kaum anders als in der Kaserne» – eine Generosität, die dem «Berliner Tageblatt» Sorge machte. «Die gottesdienstliche Betreuung sowie der Unterricht und die Hausordnung entsprechen den Üblichkeiten eines Internats.»
Es gab auch anderes zu lesen. 1934 war Deutschland noch nicht abgeriegelt, man konnte reisen, es gab freien Postverkehr, es gab sogar Telefon. Deswegen sage ich: Es ist nicht wahr, daß man nicht hätte wissen können, wenn man hätte wissen wollen. Glaubt ihnen nicht, die sich zur Nicht-sehen-, Nicht-hören-, Nicht-sprechen-Attitüde entschlossen hatten. Es ist herzzerreißend, den Bericht zu lesen, der im Juni 1934 in der (Wiener) «Neuen Weltbühne» erschien:
Ossietzky wurde als Landesverräter und, trotz rein arischer Abstammung, als Jude und Judensau besonders maltraitiert. Die Gefangenen traten auf dem Hof zum Dienst an. Carl von Osssietzky wurde im Laufschritt umhergejagt, mußte sich hinwerfen, aufstehen, wieder hinwerfen, wieder aufstehen. Betrunkene SA -Leute ließen sich das Vergnügen nicht nehmen, hinter ihm herzulaufen und Ungeschicklichkeiten Ossietzkys durch Schläge oder Fußtritte zu bestrafen. Oft vermochte sich Ossietzky kaum noch zu erheben, stumm lag er da, ohne Protest, ohne seinen Schmerz zu äußern. Solche Augenblicke benutzte der Sturmführer Bahr, ihn mit den Füßen zu stoßen und zu brüllen: «Du polnische Sau, verrecke endlich!» Wenn sich Ossietzky erhob, wurde er wieder geschlagen und getreten. Einige Wochen wiederholten sich solche Szenen auf dem Gefängnishof.
Das Prügelpack – sie hätten auch Albert Einstein bespuckt und auf Thomas Mann eingedroschen und Bertolt Brecht in die Pfützen geschlagen – hatte doch Frau? Mutter? Cousine? Onkel? Denen haben sie immer nur von netten Skatabenden erzählt? Ich glaube kein Wort davon. Gerne wüßte man ja, was aus so einem Herrn Bahr nach 1945 geworden ist – vermutlich ein persilscheinweißer Geographielehrer, pensionsberechtigt: oder auch Stasi-Oberst. Diese Akten sollen ja geschlossen bleiben – «Nun hören Sie doch mit diesen alten Kamellen auf …»
Die Akte Ossietzky ist offen. Sie umfaßt die acht Bände dieser Ausgabe. Und die Verleihung des Friedensnobelpreises 1936 war nur mehr ein Siegel. So tapfere Männer wie Knut Hamsun – noch 1929 hatte Ossietzky ihm zum 70 . Geburtstag gratuliert – werfen all ihr Gewicht in die Waagschale, um die Auszeichnung zu
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