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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Leben als «Fahren im Kreis»; tief berührend sein Gedicht «Flut und Ebbe», das Thema der Sinnlosigkeit variierend in «Nur Welle und Spiel», dem er gleich drei Benn-Mottos voranstellt. Darin erzählt er uns – es gibt auch die Form des Erzähl-Gedichts – von Jacob Burckhardts Satz «Wir möchten, daß wir die Welle kennten, / Auf der wir treiben im Ozean» (also: ohne Freiheit der Entscheidung) und nimmt eingangs ein Autobahn-Graffito auf: «Du steckst nicht in einem – du bist der Stau!» So spricht kein Barrikadenstürmer, und so spricht kein Revolutionär; es sei denn, man erinnere sich des Wort-Ursprungs
revolvere
= zurückdrehen.
    Geschichte ist in Hochhuths Begreifen Unheil, jene Katastrophe, wie sie bereits Walter Benjamin in seinem «Angelus Silesius»-Essay ausformuliert:
    Nur um
«aus»
zu
    leben – ist Geschichte! Und die Umwälzung der Machtgewichte
    Hat nur einen Zweck: Potenzverschleiß. Fortschritt,
    Endziel gibt es nicht; ein Kreis
    Hochhuth ist ein pessimistischer Aufklärer; wo er die Täter am Werk sieht, ob Diktatoren oder
shareholder
-besessene Bank-Bosse, die Tausende auf die Straße werfen, um ihren Profit zu erhöhen, ruft er Alarm. Eine Ideologie indes bietet er nicht an, beargwöhnt vielmehr jeglichen -ismus.
    Hier nun gibt es einen dialektischen Sprung in Hochhuths Gedankenwelt, damit im Werk. Er sieht den einzelnen – trotz aller Skepsis – als verantwortlich, Täter als benennbar schuldig; das war schon vor vielen Jahren sein Disput mit Adorno. Er feiert aber auch das Individuum. Und hier geschieht etwas höchst Seltsames, gleichsam eine Entgleisung. Das Individuum in seiner kleinsten, genauesten, intimsten Form ist ja ein erotisches. Und da rutscht er aus, ab ins Banale, Grobe, Peinliche.
    Zugegeben, es mag am Auge des Betrachters liegen, aber Hochhuths Angebot – sich auch noch auf Courbets krudes Bild «L’Origine du monde» beziehend –, zu «Trotze» das passende Reimwort zu suchen; sein läppischer Satz «Sex gibt selbst Arbeitslosen Kurzzeit-Energie» ist nur grotesk: Mit dem Schwebegebot für das lyrische Wort hat das rein gar nichts zu tun. Es liegt eine fast unheimliche Verwechslung vor: Eros ist das Sirren des Libellenflügels, nicht der erigierte Penis. Ich halte den folgenden Vers für nicht «gedichtfähig», für eine Mischung aus pubertär und Altmännergeilheit, den Titel «Eros» nicht verdienend:
    Schwer von der Hitze
    spannt mittags dein Schritt
    – wie die Brüste die Bluse – die hautstraffe
    Hose. Herausfordernd preist er
    dein Zentrum an.
    Es wäre wohl Thema einer eigenen Untersuchung, warum auch ganz Große der Kunst beim Darstellen von Erotik versagen, ausglitschen in einer Art Sperma-Metaphorik. Heinrich Manns Zeichnungen sind tatsächlich nichts als «nackerte Weiber», wie sein entsetzter Bruder Thomas sagte, als man sie fand. Des genialen George Grosz’ sogenannte erotische Blätter haben die sabbernde Überdeutlichkeit von Pissoir-Kritzeleien. Viele der «Gedichte über die Liebe» des armen Brecht haben rein gar nichts mit Liebe zu tun, sind ordinärer Sing-Sang von «des Weibes Loch» oder das, was man im Englischen
wet dreams
nennt: «Komm, Mädchen, laß dich stopfen, das ist für dich gesund»; man wird auch diese Zeilen schwerlich in das Rubrum «große Lyrik» einreihen mögen: «Wie gut ist Schiffen mit Klavierbegleitung, wie selig Vögeln im windtollen Schilf.»
    Rolf Hochhuth steht also nicht allein auf der Bühne des Plumpen. Doch « 100 Gedichte», das ist auch ein hoher Anspruch. Er kennt wie kaum einer seinen Benn und dessen Satz, mehr als sechs gelungene Gedichte schaffe kein Autor. Insofern hat er sein Vorbild widerlegt: Dieser Band enthält wesentlich mehr als sechs geglückte.
    Zynismus ist nie das letzte Wort: «General-Anzeiger Bonn», 24 ./ 25 .  4 .  2004 ;
    Der falsche Feind: «Die Welt», 6 .  3 .  2005 ;
    Der andere Hochhuth: «Welt am Sonntag», 26 .  3 .  2006

«Ich lehne mich auf, darum bin ich»
    Eine Hommage für Siegfried Lenz
    Es begann, wie es bei fast allen unserer Generation begann (sternenfern der jetzigen E-Mail- und Handy-Jugend): mit einer klapprigen Marineschreibmaschine auf einem Holztisch in einem «Zimmer mit Kochgelegenheit» – da war, 1949 , Siegfried Lenz 23  Jahre alt, arbeitete als eine Art Feuilleton-Assistent in der britisch lizenzierten Zeitung «Die Welt» und schrieb – nicht abgelenkt vom süßsauren Linsengeruch aus der Kochecke – an seinem Roman «Es waren

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