Stahlstiche
grüßen. Die wundersame Lesereise, auf die uns Harry Graf Kessler mitnimmt, hat so vielfältige Stationen der Wahrnehmung, daß eine Rezension dem gar nicht gerecht werden kann. Mal verwundert er sich über die Kleinheit (oft auch blättrige Schäbigkeit) der New Yorker Häuser, dann wieder über den praktischen Komfort der
business buildings.
Mal ist der europäische Adlige, kaiserlicher Garde-Offizier, in seinem Kastendenken verletzt angesichts der saloppen Rituale einer Demokratie:
Dann zum Shakehands beim Praesidenten. Ein Jeder, der will, kann jeden Tag um Eins ins White House kommen und dem Praesidenten die Hand schütteln. Diese Caerimonie findet in einem grossen Saal im Westflügel des Gebäudes statt. Heute war es schlechtes Wetter; ganze Familien mit Kindern, die noch nicht laufen konnten, kamen herein, mit nassen Regenmänteln und triefenden Schirmen, die lange Zickzacklinien auf dem hellgelben Smyrnateppich beschrieben, Männer aus dem Westen, mit grossen Schlapphüten, dicke Ladeninhaber mit fleischigen Ring beladenen Händen und nassen Regenschirmen, kleine Mittelstands-Mädchen in den Ecken des grossen Saales kichernd, eine Versammlung, wie man sie sonst in Omnibuswartehallen zu treffen pflegt.
Und mal – das vielleicht sogar zu oft und störend – wird uns eine Art Kalender gesellschaftlicher Ereignisse aufgeblättert:
New York 1 Februar 1892 Montag.
Besuche. Abends im Eden Musée; der Cocoon.
New York 2 Februar 1892 Dienstag.
Mit G. Tinnis geluncht. Abends im Paderewski Konzert.
New York 3 Februar 1892 . Mittwoch.
An der Bar Association gearbeitet. Besuch bei Mrs Goodridge. Abends Aufführung u Tanz im Berkeley Lyceum.
Ich komme hier zu einem Einwand, über dessen Berechtigung ich mir selber nicht schlüssig bin: Es ist die Frage nach der akribischen Vollständigkeit. Gewiß, ein frenetischer Leser ergötzt sich über jeden Tagebucheintrag, und hieße er nur: «Abends mit Veltheim u. Salm Skat.» Doch wenn derlei Nichtigkeiten Seiten und Seiten füllen: Will man das? Muß man es wissen – ein Ball, ein Diner, ein Kneipenabend, ein Empfang, ein Galopp im Grunewald, eine Jagd? Einerseits, das sei ohne weiteres zugegeben, wäre es ein leichtfertiger Rat an Verlag und Herausgeber, diese schließlich langweilenden Petitessen schlicht wegzulassen; man hörte schon das Geschrei «Zensur». Andererseits kann man auch Charme und Esprit gleichsam totbuchstabieren und Leser – Käufer ohnehin – abschrecken. Ich kann dieses Problem nur andeuten, eine Lösung habe ich nicht anzubieten. Wir erleben ja mit Freude, daß sich so mancher – oft kleine – Verlag der Ex-und-hopp-Dramaturgie des Literaturbetriebs entgegenstemmt; doch dann wieder steht man fragend-ratlos in seiner Bibliothek und überlegt: 11 Bände Soma Morgenstern; 9 Bände Walter Mehring; 16 Bände Franz Jung – besteht nicht Gefahr, daß ein Autor überediert wird,
recte
: begraben unter zu komplett angelegten Ausgaben?
So auch hier. Wir haben es zu tun mit einem faszinierenden Menschen, dessen Lebensentwurf Kunsthunger heißt und der schier unglaubliche Beobachtungen – oft kleine Essays – zur Kunst seiner Zeit dem Tagebuch anvertraut. Aber oft gelangt man zu diesen herrlichen Passagen nur durch eine Gasse von Stolpersteinen à la «Ball bei der Fürstin Anton Radziwill. Souper mit Marie Greindl. Cotillon mit der Comtesse Görtz.» Ja, ich weiß wohl: Auch das ist eine Farbe auf der reichen Palette, das mondäne Leben der Jahrhundertwende war durchaus Teil des Lebens von Harry Graf Kessler. Nur sind Farbtupfer auf einer Palette eben kein Bild. Ich gebe,
pars pro toto
, ein Beispiel: Auf «Meier-Graefe im Café de la Paix getroffen» könnte ich verzichten; der Eintrag reicht über sich selber nicht hinaus. Aber gleich danach entwirft der spinöse Beobachter Kessler eine Szenerie, die nicht nur haften bleibt, sondern geradezu Kulturgeschichte schreibt:
Nach dem Frühstück wegen des Pan bei Verlaine. Mit einiger Mühe seine Wohnung in einem ärmlichen Arbeiterhause der rue St Victor über vier nach Katzen, Kohl und trocknenden Proletarierwindeln riechenden Treppen entdeckt. Durch eine dunkle Vorkammer, in der der Geruchssinn einen vermuten läßt, daß die warmen, wolligen an den Wänden hängenden Gegenstände, durch die man sich mühsam hindurchwindet, Unterröcke sind, tastet man sich zu der Thür des Einen Zimmers hin, das die ganze Wohnung des größten lyrischen Dichters Frankreichs bildet. Ich
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