Stahlstiche
wohl wahr, sind nicht identisch. Und Kunst, die, Gott behüte, Wahrheit zu künden sucht, ist (übrigens zumeist in Diktaturen üppig gedeihendes) Kunstgewerbe;
vulgo
: Trivialliteratur.
Das Vorgehen von Siegfried Lenz ist anders. Es ist eine Einladung «Komm mit auf eine wundersame Reise, träume mit mir, dich hinein in eine andere Dimension von Leben» – die darf man «Möglichkeit» nennen. Es ist ein Gemenge von Märchen,
oral history
und Lehrgedicht; es ist immer das Kunst-Lasso, das er nach uns auswirft, um ein klein wenig unsere Richtung zu ändern. Er gibt uns etwas ab von seiner Phantasie, wohl in der Hoffnung, uns andere Augen einzusetzen, frei von dem Sand, den uns der Tag hineinstäubt. Deswegen nannte man Dichter einst Seher.
Manchmal benutzt Lenz entscheidende Stichworte wie «zierliche Nötigungen der Wirklichkeit» oder «Farbe bekennen». Das ist ein klein wenig, ein winziges Teilchen von dem, was der Sternengucker – meinetwegen: Sternendeuter – uns von seinem Kosmos zu erzählen weiß; eine Banausie wäre es, selber zu glauben oder glauben zu machen, der stünde außerhalb des Kosmos. Das tat Thomas Mann nicht, als er seinen Enkel Fridolin (im Faustus-Roman «Echo») sterben ließ – er gab einen Fetzen des eigenen Lebens ab, nahm uns eine Spur des unseren. Das tat der große russische Lyriker Joseph Brodsky nicht, als er seinem italienischen Freund Gianni Buttafavas das herrliche Gedicht «Vertumnus» widmete, an dessen Ende er ihm einen Liebeskranz bot, den er nicht winden konnte:
Ich habe nichts womit ich dir einen Kranz
winden, deine Stirn schmücken könnte am Ausgang
dieses Jahres von extremer Dürre.
Das meint wohl Peter Handke, wenn er in einem Gespräch sagte, sein Erzählen sei «nicht nur Utopie, es ist auch real, das Realste überhaupt. Es ist ein Vorschlag, ein Traum von Geschichte.» Und das ist ganz gewiß der Impetus von Siegfried Lenz, der in einem Aufsatz bekannte: «Schreiben ist für mich die beste Möglichkeit, um Personen, Handlungen und Konflikte verstehen zu lernen» – und der im selben Kontext die Konsequenz zieht, daß Motive ihn nur aufrühren können, wenn es Motive von Fall, Flucht und Verfolgung, von Gleichgültigkeit, Auflehnung und verfehlter Lebensgründung seien.
So liest sich der Selbstentwurf dieses Künstlers; der ist nicht ohne Dorn und Zorn, keineswegs behäglich. Wenn Gottfried Benn, der die minimste Schmeichelei wie das dicke Lob Friedrich Sieburgs freudetrunken schlürfte wie sein abendliches Bierchen, dekretierte «Erfolg ist immer ein Irrtum», dann ist das dummes Zeug. Siegfried Lenz’ Erfolg ist durchaus nicht pausbäckiger Biederkeit zu verdanken. Nicht zufällig zitiert er gerne Metternichs Satz über Heinrich Heine – «Vortrefflich, ganz vortrefflich; muß man sofort verbieten» – und nicht ohne scharfe Zurechtweisung fertigt er die Zumutung ab, ein Talent habe sofort, stets und anstandslos den Forderungen irgendeiner Öffentlichkeit zu parieren: «Es wäre ein Oberkellner der Zeitgeschichte, von dem wir erwarten, daß er alle Bestellungen prompt ausführt, und jeder Besitzer von fünf Mark hätte obendrein das Recht, ihn zur Eile anzutreiben.»
Das ist das Bewundernswerte an der Arbeit dieses Autors: Er verwebt den essayistischen Trotz mit der epischen Melancholie. Er kann im Gespräch mit Manès Sperber wütend sagen «Ich lehne mich auf, darum bin ich. Das Nein zu den Zuständen der Welt» – und er kann das (im Roman «Heimatmuseum»), als fülle er eine Hohlform aus, ins Epische vertiefen: «Wenn Sie also glauben, daß Heimat eine Erfindung hochfahrender Beschränktheit ist, dann möchte ich Ihnen aus meiner Erfahrung sagen, sie ist weit eher eine Erfindung der Melancholie.»
Vielleicht ist hier zweimal ein sehr entscheidendes Wort gefallen: Melancholie. Mir scheint nämlich, als werfe die Sonne schräge Schatten über die Wortgespinste des nun Achtzigjährigen; als habe er sich einer Dunkelheit zu erwehren; als sei Literatur, die er einst Erkenntnismittel nannte – Kafkas Satz von der Axt «für das gefrorene Meer in uns» zu Hilfe nehmend –, ihm mählich auch zur Erkenntnis unserer Ohnmacht geworden. Mag gut sein, daß es auch am Schreiber dieser Zeilen liegt, dem sich plötzlich der Psalm 90 , 10 ins Gedächtnis schiebt: «Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe.» Doch schon in den nun zwanzig
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