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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Jahre zurückliegenden Essays «Elfenbeinturm und Barrikade» finden sich Dunkelworte zuhauf, wird die Frage nach der Phantasie als möglichem Drohpotential gestellt, die Wehrlosigkeit des Geistes gegenüber den Realitäten ausgelotet. Wenn er andernorts Sartres politisch-philosophische Dramen als Vorbild nennt, setzt er dem sogleich ein Zögern entgegen: «Wo Herrschende ein gutes Gewissen zur Schau stellen, da geschieht es auf dem Grab einer freien Literatur.» Unsere Herrschenden, ob Bankbosse oder der dubiose Präsident Bush, haben ein geradezu peinigend reines Gewissen; rein, wie Rolf Hochhuth einmal schrieb, weil nie benutzt. Es ist das Anrührende wie Aufrührende dieses Romanciers, daß er uns bei aller Lust am prallen Erzählen das Menetekel nie erspart: «Deshalb wäre eine Welt von Gleichgültigen eine Welt von tatenlosen Zuschauern, die aus grauen Felsengesichtern von ihren Logenplätzen herabblicken, ohne Erschütterung, ohne Mitleid, Wesen, in deren Adern Lack ist.»
    Ich umarme Siegfried Lenz für seine Menschlichkeit. Ich gratuliere Siegfried Lenz zu seinem Leben und Werk.
    DIE ZEIT , 12 / 16 .  3 .  2006

Chronist der Epoche
    Über die Tagebücher von Harry Graf Kessler
    Für Literaturnarren, für Wißbegierige nach Geschichte und Geschichten ist ein Fest angesagt: Endlich erscheinen als integrale Edition die ins Reich der Legenden und Gerüchte abgesunkenen Tagebücher von Harry Graf Kessler – einer der farbigsten (ja, gewiß, auch schillernden) Figuren des ausgehenden 19 . Jahrhunderts mit den Höhepunkten seiner ruhmreichen Tätigkeit auf mancherlei Gebiet der Kunst und Politik in den zwanziger Jahren bis zum bitteren Ende des Emigranten 1937 . Was man aus einer vor Jahren unsorgfältig zusammengestellten Auswahl und dem schönen Marbach-Katalog des Jahres 1988 wusste, war durchaus angetan – über einige biographische Versuche hinaus –, nach «Mehr, bitte, mehr!» zu rufen. So verwinkelte wie glückliche Umstände versetzten das Marbacher Literaturarchiv schließlich in den Besitz der vielen (schwer leserlichen) Originalbände, die nun rühmenswerterweise mühselig transkribiert wurden und Band für Band einen Zeitzeugen allerersten Ranges zu Worte kommen lassen.
    Schon die hier nur andeutungsweise zu skizzierende Vita dieses Mannes ist ein veritabler Kulturkrimi. 1868 in Paris als Sohn des wohlhabenden Hamburger Bankiers Adolf Kessler und der faszinierend schönen Mutter Alice geboren, die einem irischen Adelsgeschlecht angehörte, erlebte er eine Jugend zwischen preußischer Strenge, die an Musils Zögling Törleß gemahnt, Eliteschulen in Paris, Ascot, Hamburg, und dem Glanz jener hochkultivierten Mondänität des Fin de siècle, die schwer in heutige Begriffe zu fassen ist.
    Die Mutter, eine begabte Sängerin und passionierte Laienschauspielerin, ließ sich im Garten ihres Pariser Stadtpalais ein eigenes Theater erbauen; alle Wohnsitze der Familie in Paris trugen erste Adressen; man reiste bereits nach New York oder London; Luxussuiten in den besten Hotels waren so selbstverständlich wie Kuren in Bad Ems oder Bad Gastein. Das den Sprößling viele Jahre hindurch kränkende Gerücht wollte wissen, Kaiser Wilhelm I. habe mehr als nur eine Schwäche für die schöne Alice Harriett Blosse Lynch gehabt,
vulgo
: Harry Graf Kessler sei ein unehelicher Sohn des Kaisers. Die Daten geben das nicht her, da man sich, offiziell jedenfalls, erst nach Harrys Geburt kennenlernte.
    Ein geborener Graf war Harry Kessler nicht; aber wie ein Prinz wuchs er auf in einer Welt der Equipagen, des Personals, der prunkhaften Besitzungen – und einer früh (mit vier Jahren konnte er fließend lesen) von der Mutter vermittelten Bildung, die ihrem einzigen Kind Musik, Literatur, Malerei als seelische Nahrung bot. Frühe Einsamkeitsgefühle, gar einen frühen Selbstmordversuch schloß das nicht aus. Es schloß ein die hingebungsvolle Liebe zur Mutter – der einzigen Frau, wie er einmal bemerkte, die er geliebt hat bis zum Schmerz. Das mag die Beziehung (genauer gesagt: Nicht-Beziehung) zu Frauen des jungen und erwachsenen Mannes geprägt haben. Aus ironischen, distanzierten, abfälligen Bemerkungen über Frauen ließe sich ein hübsches kleines Kessler-Glossar zusammenfügen. «Cocotte» oder «das Weib» sind noch harmlose Bezeichnungen, irgendeine Gräfin Gneisenau ist bereits ein Exemplar «des Weibchens, das die Kunst als Bordell benutzt»; und er sieht sich oft, sehr oft in der Rolle des Joseph, bei

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