Stahlstiche
klopfe an und trete ein. Es ist ein richtiges Arbeiterzimmer, niedrig, dunkel, dürftig eingerichtet: zwei oder drei Strohstühle, ein großes Ehebett, das Bett Verlaines und seiner illegitimen Madame Verlaine, ein weißer Holztisch, der offenbar als Arbeits- Eß- und Küchentisch dient; an den Wänden vergilbte Fotografien und sentimentale Chromobilder – die Kunstgalerie der Madame. Ein großer farbiger Präsident Faure, der an die Decke geklebt ist, macht es wie Claudius im Hamlet «Il bouche un trou». Im Bett liegt angezogen und mit Pantoffeln an den Füßen Verlaine. Er steht auch zunächst nicht auf. Der bizarre Sokrateskopf erhebt sich kaum aus den unordentlich verschlafenen Kissen.
Wie gut haben es meine Kollegen von der Theaterkritik – die können applaudieren. Das ist eine leicht lächerliche Vorstellung: Da sitzt jemand, liest und applaudiert – aber man möchte es, sehr oft. Ob über Ibsen oder die Fragwürdigkeit des demokratischen Prinzips, ob über der Menschen notwendige Sehnsucht nach einem Ideal oder über die Bigotterie des Premierenpublikums der «Weber» – dieser Mann ist sozusagen die Brüder Goncourt als Einzelperson. Er ist nicht nur ein brillanter Diarist, der auch keine Scheu vor Sottisen und Klatsch hat. Nicht ungerne gibt er Max Liebermanns Satz wieder: «Munch, wissen Se, det is ooch eener der besser jethan hätte Schuster zu werden.» Kessler ist auch der Chronist einer ganzen Epoche und einer Gesellschaft, deren Teil er zwar ist, deren wenig später mörderisch werdende Verwerflichkeit er aber früh, nämlich schon 1894 , erkennt:
Die Gräfin Hohenau ist weniger schön wie chic; vor der Thür stand ihr kleiner Ponywagen, den sie selbst fährt. Die Schubin erzählt A. v. Werner habe ihr gesagt er müsse jetzt alle seine jüdischen Bekanntschaften aufgeben, da sonst keine Offiziere mehr zu ihm ins Haus kämen, was wegen seiner Töchter nicht angienge und andrerseits seien doch die Juden die Einzigen die noch was kauften.
Da dreht einer ein mächtiges Kaleidoskop, splitternd fallen immer neue Farbplatten zu immer neuen Bildern zusammen, verführerisch, abstoßend, gleißnerisch, prunkend in Banalität und schwarz glitzernd den Untergang einer Epoche vorwegnehmend. Denn ein Tagebuchschreiber ist immer auch Regisseur, ein arrangierendes Subjekt – einer seiner Kollegen des 20 . Jahrhunderts, Witold Gombrowicz, begann das seine mit den drei Worten «Ich Ich Ich». Ob es klug war, mit dem Harry Graf Kessler aus gerade dieser Epoche zu beginnen – fast zwei Drittel des Bandes erzählen von seinen Reisen in die USA und nach Mexiko –, stelle ich anheim. Vieles, was damals und für ihn so unerhört war, so verwunderlich, fremd, neu und gänzlich ungewohnt, ist für den heutigen Leser von aufhaltsamer Anciennität, bekannt aus zahllosen Bildbänden, Filmen, Fotos. Verführerischer wäre wohl ein Band aus der großen Zeit des «Roten Grafen» gewesen. Da Verlag und Herausgeber sich für eine asynchrone Publikation entschieden haben – dieser zuerst erscheinende Band ist der Band zwei der Edition –, wäre es gewiß verlockender gewesen, den eleganten linken Grafen kennenzulernen in seinem Berliner Salon oder seiner Weimarer Villa.
Doch genug der Beckmesserei. Wir alle, begierig wartend seit Jahren auf diese Edition, haben Grund zum Feiern. Schade, daß Sitte und Anstand es verbieten, Verlag und Herausgebern eine Kiste Champagner zu schicken. Verdient hätten sie es.
DIE ZEIT , 18 / 22 . 4 . 2004
Für Christa Wolf
Eine Laudatio
Jemand hat mir meine Freudefunken ausgetreten.
CHRISTA WOLF, «Die Strafe»
«Also gut, jetzt strenge ich mich an», heißt es in einer meiner Lieblingserzählungen von Christa Wolf: «Was bleibt.»
Lassen Sie es mich versuchen. Und lassen Sie mich sofort Kassandra bei den Hörnern packen, die sie nicht hat, die ihr aber angeheftet wurden von einer Literaturkritik, deren kritischen Vorwurf ich durchaus nicht teile. Jedes der beiden Hörner hat einen Namen – und ich möchte den jeweils umdrehen zu Ehrentiteln. Christa Wolf sollte sie mit Stolz tragen.
Der eine Begriff heißt Staatsdichterin. Ja, fürwahr, Christa Wolf ist die poetische Chronistin eines Staates, der hierzulande einst «Phänomen» genannt wurde und heute mit dem Epitheton «ehemalige» in den Orkus der Geschichte gekehrt werden soll; niemand indes spricht vom «ehemaligen» Kaiserreich oder der «ehemaligen» Weimarer Republik?
Ich spreche also von der DDR – und
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