Stahlstiche
ich spreche in der Tat davon, daß niemand uns Würde wie Bürde dieses einzigen Versuches, ein sozialistisches Deutschland zu bauen, daß niemand uns den Anstand dieses Entwurfs wie den Weg ins Verirren, die Größe und Tragik der DDR mit so viel erlebter Intensität verdeutlicht hat wie Christa Wolf; wie und woran diese Tastschritte hin zum aufrechten Gang beim zerschlagenen Rückgrat endeten, kann nirgendwo, bis in die dünnen und empfindlich verästelten Nervenenden, besser erfahren werden als in ihrem Werk: es ist das gar nicht hoch genug einzuschätzende Verdienst dieser Autorin. Nur großen Schriftstellern gelingt es, eine ganze Epoche zu erfassen, deren Puls und deren Infarkt so sinnlich erfahrbar zu machen, daß es unser Puls und unser Infarkt wird. An Thomas Mann darf man erinnern, an Balzac, der seine Figuren nach der «Enrichissez-vous»-Musik des Bürgerkönigtums zum Tanzen brachte. Ich habe in jungen Jahren in der DDR gelebt (und, wohl wahr, weiß, warum ich sie verlassen habe) – so kann ich aus eigener Sicht bezeugen, wie haargenau Christa Wolf erfaßt hat, was dieser Aufbruch an Größe, Emphase und Ehrlichkeit hatte; was es für Menschen waren, die dieses Wagnis zu ihrer Sache machten: Ich bitte Sie, vergessen Sie nicht, wie viele von ihnen Emigranten waren, Remigranten nun – den Häschern in knapper Not entronnen nach Kolumbien oder Mexiko, Moskau oder New York, nach Shanghai; den Häschern, die in Rauch verwandelten, wer ihnen nicht entkam: Häscher, die es sich alsbald in westdeutschen Chefsesseln bequem machten, ob in Ministerien, Vorstandsetagen oder Redaktionen. Weil diese Luft ihm den Atem abpreßte, floh der zurückgekehrte Alfred Döblin aus Deutschland ein zweites Mal.
Wir haben das, ich beschwöre Sie, mit einzugedenken, wenn wir DDR denken, wenn wir Christa Wolf lesen: hier Sieburg und Süskind und ein Cheflektor, der eben noch im SS -Rasseamt über das «jüdische Unheil» Papiere ausfüllte und nun – nicht mal eine Christa Wolf hätte sich das ausdenken können – sich als Betreuer des Werks von Hannah Arendt etablierte – dort Brecht und Seghers und Zweig. Nicht nur, fürwahr. Der Anstand gebietet, hinzuzufügen, daß zum Grausen der Rückgekehrten – man lese das in Brechts Tagebüchern nach – auch in der DDR etwa ehemalige Hitlergeneräle die neue Armee mit aufbauten. Prägung jedoch war das nicht. Die Prägung war eine andere. Erinnern wir uns der winzigen Szene in Stefan Heyms Erinnerungen, wie er mit der Schuhspitze ein Häuflein Erde lockert: «Das müssen wohl meine Eltern sein.»
Unvergeßlich, von «Der geteilte Himmel» über «Nachdenken über Christa T.» zu «Kindheitsmuster» und den beiden Kassandrabüchern, die, ja, wie nenne ich es: Gefühlsgenauigkeit? Das Lebenszittern? Den Gedankenkrebs? – unvergeßlich das ganze große Prosagewebe, in das Christa Wolf all die Fäden und Farben einschoß, die uns eine Gesellschaft bis zum eigenen Herzflimmern erlebbar machen.
In einer glanzvoll gelungenen Stil-Balance zwischen lyrischer Sentimentalität und der nahezu leidenschaftslosen additiven Chronistenprosa, wie wir sie aus frühen Meistererzählungen der Anna Seghers kennen, ist die Totenklage der Wolfschen Ich-Erzählerin, die beim Nachlaß-Ordnen der mit 35 Jahren an Leukämie gestorbenen Freundin nach-denkt, eine großangelegte Reflexion über das Thema Individuum und Gesellschaft. Die angeblichen Funde, in unvollendeten Manuskripten oder abgebrochenen, nie abgesandten Briefen, vervollständigen nicht nur allmählich, Mosaikstein für Mosaikstein, ein «Leben zum Tode hin», sondern wirken umgekehrt zurück aufs Nachdenken der Erzählerin: auf Christa Wolf. In ihrem Selbstinterview beschreibt sie den Vorgang:
… da ist kein «Stall» gewesen, der mich zum Abschildern reizte, da ist kein «Gebiet unseres Lebens», das ich als Milieu nennen könnte, kein «Inhalt», keine «Fabel», die sich in wenigen Sätzen angeben ließen. Zu einem ganz subjektiven Antrieb muß ich mich bekennen: Ein Mensch, der mir nahe war, starb, zu früh. Ich wehre mich gegen diesen Tod. Ich suche nach einem Mittel, mich wirksam wehren zu können. Ich schreibe, suchend. Es ergibt sich, daß ich eben dieses Suchen festhalten muß, so ehrlich wie möglich, so genau wie möglich? …
Frage: So schreiben Sie also eine Art von posthumen Lebenslauf …
Antwort: Das dachte ich zuerst. Später merkte ich, daß das Objekt meiner Erzählung gar nicht so eindeutig sei,
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