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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Solidarität? Dasselbe Leid zu
erleben
und sich Leid vorzustellen, das bleiben zwei verschiedene Vorgänge. Darf ich eine kleine Geschichte erzählen: Ich war sehr befreundet mit James Baldwin. Eines Abends aßen und tranken wir mit einem gemeinsamen Kollegen, einem deutsch-jüdischen Schriftsteller; der erzählte, wie
er
 – schon emigriert – illegal noch einmal mit der Bahn durch Nazideutschland reiste. Baldwin reagierte mit nur fünf Worten: «I couldn’t have done it» – er wäre, illegal als Schwarzer durch Alabama fahrend, eben erkannt worden.
    GORDIMER : Aber niemand erwartet, daß man dasselbe Leid
erlebt
; Leid kann man nicht teilen, niemand kann es, und ich prätendiere das überhaupt nicht. Sie haben das Wort «vorstellen» benutzt: Das ist doch die Kraft des Schriftstellers – die Imagination, es sich vorzustellen. Es ist offensichtlich, ich habe nie in Soweto gelebt. Aber Tolstoi war auch kein Bauer, vielmehr ein reicher Großgrundbesitzer. Man kann nicht zwanzig Leben leben, und man kann seine Klasse nicht wechseln.
    FJR : Die Klasse vielleicht, die Rasse nicht.
    GORDIMER : Sie scheinen mir von diesem Gedanken besessen. Ich sehe es ganz anders. Man geht durch viele Stadien. Anfangs hat es etwas Paternalisierendes; ich habe – in diese Situation hineingeboren – früher stets Sorge gehabt, Schwarze durch Freundlichkeit zu beleidigen. Wird man selber sicherer, kennt man sich selber besser, dann ist es auch viel leichter, einen anderen zu kennen. Es ist vielleicht mehr eine Sache von Erfahrung als von diesem «Beschluß», von dem Sie sprachen. Es ist wie das Häuten einer Zwiebel, noch eine Schicht und noch eine Schicht von diesem Bewußtsein «Ich bin weiß, du bist schwarz» abzuschälen. Das geht nicht über Nacht.
    FJR : Wie lange haben Sie gebraucht?
    GORDIMER : Mein ganzes Leben.
    DIE ZEIT , 23 / 29 .  5 .  1992

«Ich bin über mich tief enttäuscht»
    Gespräch mit Saul Bellow
    FRITZ J. RADDATZ : Roman oder
biographie romancée?
Ihr amerikanischer Verleger spricht in der Werbung für «Ravelstein» von Roman, aber der Autor – sofern er verantwortlich ist für die Titelseite – nicht; da taucht kein Genre-Begriff auf.
    SAUL BELLOW : Ich habe nie von einem Roman gesprochen; allerdings gerät mir alles, was ich schreibe, zu einer Art Roman. Entscheidend ist nicht das Entstandene, sondern das Entstehen, der Prozeß des Schreibens. Ich zitiere gerne den Satz, den Alberto Moravia einmal zu mir sagte: «Romane sind immer ein Stück des eigenen Lebens.»
    FJR : Gewiß – von Tolstois «Anna Karenina» bis zu Thomas Manns «Buddenbrooks» gab es Portrait-Gemmen, beleidigte Lübecker Senatorenwitwen und klatschsüchtige russische Großfürstinnen, die Literatur als Gesellschaftsspiel «Wer ist wer?» mißlasen. Auch Ihr Erfolgsroman «Herzog» teilte dieses Schicksal. Doch mir scheint, das bekommt im Augenblick eine neue Dimension des Abziehbilds – Susan Sontag schreibt den Roman einer polnischen Schauspielerin, Mario Vargas Llosas neues Buch portraitiert den Diktator Trujillo, Filme illustrieren «Vorgaben», ob Billie Holiday, Marlene Dietrich oder Karajan.
    BELLOW : Vielleicht liegt das auch am mediengeprägten Publikum, das auf komische Weise «Akkuratheit» verlangt, Nachprüfbares, eine Art technische Zuverlässigkeit. Für mich, für den Schriftsteller, liegt die Sache anders: Gewiß, ich war mit Allan Bloom befreundet, er hat mich sogar gebeten, einmal seine Biographie zu schreiben – aber das Eigentliche war für mich, einen in sich stringenten, narrativen Text herzustellen; der dann gleichsam von sich aus eine Figur schafft. Mein Ehrgeiz ist nicht, einen Scherenschnitt anzufertigen. Meine Ambition ist bescheidener: aus Splittern der Welt eine eigene Welt zu schaffen. Im Fall Allan Bloom hat mir das sehr zu schaffen gemacht, zumal seine Homosexualität. Ein wenig nehme ich mir dies postume Outing immer noch übel; aber schließlich gehörte es zu seiner Persönlichkeit.
    FJR : Was ist so furchtbar daran, homosexuell zu sein?
    BELLOW : Gar nichts, nicht für mich. Aber die Gesellschaft reagiert noch immer wie auf den Warnruf «Lepra». Doch es ist ja auch ein Buch über die provokanten Thesen dieses Mannes.
    FJR : Sie – der Sie einen Saul-Bellow-Biographen mit dem Satz: «Sie bringen Facts und Fiction durcheinander» zurechtwiesen – sind also der Architekt dessen, was wir «Ideenroman» nennen?
    BELLOW : Hochinteressante und sehr europäische Frage. Dieser

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