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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Begriff des «Kulturellen» – meine russischen Eltern sprachen immer von
culturnij
 – ist dem Amerikaner fremd, auch dem dank guter Universitäten gebildeten Amerikaner; er hat keinen Geschmack an
culturnij.
Auch mir ist das oft als Angeberei verdächtig.
    FJR : Nun ist ja Ihr «Ravelstein» alias Bloom ein wahrer Bildungsprotz, das Buch eine Tour d’horizon zwischen Nietzsche, Heidegger, Homer und Dostojewskij: Wo ist da der verdächtigende Autor Saul Bellow? In früheren Gesprächen haben Sie auf die Frage «Fühlen Sie sich als Amerikaner?» höchst zögernd geantwortet – ja, nein, ich weiß nicht, manchmal ja, manchmal wieder fühle ich mich nur als Jude, keineswegs als Amerikaner.
    BELLOW : Sie kommen sehr schnell auf den schwierigsten Punkt. Bleiben wir noch einen Moment beim Schreiben. Sehen Sie, diese Fasziniertheit von Ideen – gar Ideologien – stößt mich ab. Natürlich weiß ich, daß Thomas Mann ein begabter Schriftsteller war; aber dieses intellektuelle Gehabe, dieses aufgeblähte Sich-wichtig-Machen etwa im «Zauberberg» hat das Buch ertränkt, es ist überladen.
    FJR : Hängt das auch mit der Verantwortlichkeit des Schriftstellers gegenüber der Gesellschaft zusammen? Europäische Romane sind ja oft kleine Belehrungsexerzitien. Sie leugnen stets diese Rolle des Schriftstellers – aber jeder Schreibende, auch Saul Bellow, ist doch Teil und zugleich Ferment seiner Gesellschaft? Ein Widerspruch?
    BELLOW : Wenn Sie auf so etwas wie Kulturpolitik hinauswollen: Das lehne ich strikt ab. Das hat nichts mit Kunst, mit Literatur zu tun. Dieser Kram mit «Kritiker der Gesellschaft» ist der Kunst äußerlich, ist Kultur-Technik – die Franzosen nennen es
quincaillerie –,
eine Art Kartoffelschälmaschine. Amerikaner sind resistent dagegen. Deswegen ist es schwer, darüber zu diskutieren.
    FJR : Dann bin ich europäisch-hartnäckig. Immerhin behandelt «Ravelstein» einen Pädagogen, jemanden, der den Kulturverlust Amerikas beklagt, wenn schon kein Ankläger, dann doch ein gut Stück Prediger. Ein Schriftsteller nimmt doch bereits durch die Wahl seines Sujets Stellung?
    BELLOW : Erlauben Sie mir, etwas ausführlich zu werden. Für mich war Bloom kein intellektueller Held, kein Kämpfer für mehr Mallarmé oder weniger Sigmund Freud. Für mich ist er eine Trophäe, die man liebt. Ein Charakter mit unendlich vielen Facetten, der seinen Homer so gut kannte wie das Hotel Crillon, der die französischen Symbolisten so liebte wie die französische Haute Couture, der in Kultur so vernarrt war wie in die Knaben, die er auf den Straßen von Paris aufgabelte. Eine unendlich schillernde Persönlichkeit – vollkommen ideal, um die unsinnige These vom Tod des Romans zu widerlegen. Denn nur der Mensch ist interessant, romanfähig sozusagen. Und wenn wir von der Dehumanisierung unserer Welt sprechen, dann meinen wir in Wahrheit das Verschwinden des Menschen. Der Verfall des Romans ist der Verfall des Humanums, der Persönlichkeit. Der Erfolg des Buches bei den Lesern zeigt, daß das Interesse am außergewöhnlichen Charakter nur brachliegt, verschüttet ist, geweckt werden kann. Bloom war ein gebildeter Mann, aber er war vor allem ein Virtuose des Lebens. Er haßte Angeberei und intellektuelles Getue.
    FJR : Und sein Biograph? Nach zahllosen Ehrungen, vielen Ehen, junger Vater mit 85  Jahren, Lebensvirtuose und Beargwöhner des Intellektualismus?
    BELLOW : Ich habe nichts gegen eine Bildungsgesellschaft – wenn sie sich formt aus echten Intellektuellen. Aber auf einen von ihnen kommen tausend Wichtigtuer.
    FJR : Sind Europäer für Sie intellektuelle Wichtigtuer? Und glauben Sie – trotz Ihres Widerwillens, «Gewissen der Nation» zu sein –, irgendeinen Einfluß zu haben, oder bleiben Sie bei einer früheren Äußerung: «Niemand braucht uns, niemand liest uns, niemand kennt uns»?
    BELLOW : Die zweite Frage zuerst: Ich weiß es nicht. Wenn Sie heute in einen kleineren Ort, sagen wir, des amerikanischen Mittleren Westens, kommen, werden Sie erstaunt sein, wenn Sie die Ausleihfrequenz der öffentlichen Bibliotheken sehen, von Walt Whitman zu Marcel Proust. Wer liest das alles? Einerseits beklage auch ich, daß unsere Universitäten versagt haben, daß nur etwa ein zehntel Prozent unserer Bevölkerung sich für Literatur interessiert; andererseits: Das sind zirka 250 000 Leser – das hatte kein Flaubert und kein Fielding. Doch wie wird es verdaut? Vielleicht wie die Missionare von den Wilden

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