Stahlstiche
Jahrhunderts ausgespart. Ich habe nicht einmal ansatzweise versucht, den Gefühlen in meinem Werk Raum zu geben, die dadurch ausgelöst wurden. Ich bin deswegen über mich selber tief enttäuscht.
DIE ZEIT , 30 / 20 . 7 . 2000
«Ich bin keine Amerikanerin»
Gespräch mit Toni Morrison
Die afroamerikanische Schriftstellerin Toni Morrison – 1993 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt – gilt als wichtigste Stimme der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Ihre Romane, schon vor dem Nobelpreis höchst erfolgreich, erscheinen in aller Welt in Millionenauflagen, sie ist Direktorin des Instituts für afroamerikanische Studien der Elite-Universität Princeton und so populär, daß die berühmte Sopranistin Kathleen Battle zur Feier des hundertjährigen Jubiläums der Carnegie Hall einen Zyklus von Liedern nach Texten von Toni Morrison in Auftrag gab, die André Previn vertonte. Ihr soeben erschienener Roman «Paradise» – der erste seit dem Nobelpreis – hat nahezu eine nationale Explosion ausgelöst: «Time Magazine» widmete der Autorin eine Titelgeschichte, die Kritiker von «Newsweek» über «New York Times» bis zum «New Yorker» priesen das komplizierte Buch als «das beste dieser außergewöhnlichen Autorin – allein die Schönheit des Romanendes möchte einen sterben lassen». Die Geschichte des in Oklahoma gelegenen Dorfes Ruby, in dem schwarze Patriarchen einen autonomen Ort der Glückseligkeit errichteten, kündet den Horror gleichwohl bereits im ersten Satz an: «Zuerst wurde das weiße Mädchen erschossen.» Ihr höchst komplexes episches System – die «New York Times» schrieb begeistert von Zusammenklang des Poetischen, der Emotion und der Symbolik – erläutert Toni Morrison in diesem Gespräch. Kurz zuvor hatte sie es auf eine Kurzformel gebracht; im Interview mit Amerikas Talk-Show-Queen Oprah Winfrey – nach Toni Morrisons Auftritt in der Sendung wurden über eine Million Exemplare ihres Romans «Song of Solomon» verkauft – antwortete sie auf die Frage, ob man nicht manche ihrer schwierigen Sätze zweimal lesen müsse: «That, my dear, is called reading.»
FRITZ J. RADDATZ : Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie zwei recht widersprüchliche Bemerkungen zu James Baldwin gemacht: Er sei einerseits ein Vorbild für Sie, andererseits sei seine schriftstellerische Arbeit Literatur für Weiße gewesen.
TONI MORRISON : Ich liebte Jimmy als Person, wir waren Freunde. Der Schriftsteller Baldwin indes kartographierte eine schwarzweiße Landschaft, er schrieb – wie viele schwarze männliche amerikanische Autoren – aus der Reaktion auf eine Gegenwelt, die des weißen männlichen Amerikaners. Der Rassismus war ein Impuls dieses Schreibens. Die Konfrontation zwischen dem weißen Mann und dem schwarzen Mann prägte zum Beispiel auch das Werk von Richard Wright. Es intonierte ihre Stimme. Jedes Buch hat einen unsichtbaren Leser, ein Eigenleben unterhalb der Worte, Sätze, Passagen. Und diese Strömung unterhalb der Texte war der bittere, wichtige Streit mit den Weißen, besser gesagt: mit dem weißen Amerika.
FJR : Kampfliteratur?
MORRISON : Kampfliteratur. Ich habe ein ganz anderes Feld vorgefunden, das ich zu bestellen hatte. Als ich zu schreiben begann, waren das Bücher einer afroamerikanischen Schriftstellerin, die zu einer afroamerikanischen Leserschaft sprach. Ich konnte ohne Didaktik auskommen, ich brauchte niemanden zu belehren, meine Leser wußten alles über den amerikanischen Rassismus, hatten ihn auf jegliche Weise erlebt und erlitten.
FJR : Ich akzeptiere nicht alles. Zum ersten waren auch Sie der Leser, pardon: die Leserin dieser Schriftsteller; und wenn Sie keine Erklärung Ihrer Situation als schwarze Amerikanerin brauchten – so bekamen Sie doch Ermutigung, Selbstbewußtsein, vielleicht eine stolzere Haltung.
MORRISON : Sie haben vollständig recht. Ohne alle die, über die wir sprechen, gäbe es wohl keine Toni Morrison – nicht deren Werk. Gerade Baldwin habe ich viel zu verdanken.
FJR : Und die Schriftstellerin Toni Morrison? Ist dieses Insistieren auf «meine schwarzen Leser» nicht ziemlich heikel, wenn nicht gar falsch? Ich habe ja Ihre Bücher auch gelesen und vielleicht drei – wenn nicht drei Millionen – andere Weiße.
MORRISON : Mir als Schriftstellerin ist die Unterscheidung fremd. Ich setze mich nicht an ein Manuskript und murmele vor mich hin: «Jetzt schreibst du für deine schwarzen Schwestern und Brüder.» Aber ich wehre
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