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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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verdaut wurden? Aber ich kenne niemanden hierzulande, der sagte: «Wir sind das Land eines Walt Whitman.»
    Womit wir bei Ihrer ersten Frage sind. Ich kann da keine generell gültige Antwort, nur meine persönliche Meinung geben. Ich mißtraue dieser angeberischen europäischen Kulturbeflissenheit und glaube kein Wort des jeweiligen
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: «Ich kenne meinen Rousseau und meinen Diderot»; ich sehe vielmehr, daß all diese Bücher wenig in den Menschen bewirkt haben. Da Sie aus Deutschland kommen: Sie selber glauben doch nicht im Ernst an dieses Bramarbasieren: «Wir sind das Land Beethovens und Goethes» – und dann machten sie zwei Weltkriege. Sie kannten jede Dame in Goethes Leben – und fielen über die Welt her. Vergessen Sie nicht: Sie sprechen mit einem Juden. Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis, ein jüdisches Gedächtnis.
    FJR : Es waren besonders die jüdischen Einwanderer – Sie haben mal gesagt: «Ich danke diesem Land» –, die progressive Ideen nach Amerika brachten, die Jahre, manchmal Jahrzehnte hindurch dem Marxismus anhingen. Auch Sie waren als junger Mann Marxist. Wann und warum brachen Sie?
    BELLOW : Eine jiddische Sequenz variierend, könnte ich sagen: «Der Marxismus ist eine ausgelutschte Eierschale.» Etwas ernster könnte ich mit dem Satz eines Kollegen antworten: «Wer vor seinem 30 . Lebensjahr kein Marxist ist, hat kein Herz; wer nach seinem 30 . Lebensjahr Kommunist ist, hat keinen Verstand.» Als sehr junger Student näherte ich mich dem Marxismus, fand aber sehr schnell heraus, daß ich kein
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bin. Das werfe ich zum Beispiel Sartre vor, dieses Geschwätz damals von der großen Sowjetunion, ohne die wir alle nicht überleben könnten, die wir unterstützen müssten, ohne deren Variante des Marxismus wir verloren wären – all das nach dem Krieg, ohne die Verbrechen des Stalinismus auch nur zu erwähnen.
    FJR : Nach einem Krieg gegen Hitler, der immerhin ohne die Sowjetunion nicht gewonnen worden wäre; dieser Zwiespalt war ja Gegenstand der Debatte zwischen Sartre, Camus und Merleau-Ponty.
    BELLOW : Ich gebe keinen Pfifferling auf eine intellektuelle Debatte, die derart kindische Idiotien produziert. Als Romancier prägen sich mir Bilder ein. So erinnere ich mich an einen Auftritt von Arthur Koestler im Chicago der ersten Nachkriegsjahre, bei dem jemand aus dem Publikum ihn fragte, wie er seinen Tag verbracht habe; er antwortete, er sei an den Hafen gegangen, um den streikenden Werftarbeitern, damit der Arbeiterklasse der Welt, seine Solidarität zu bekunden, «und» – rief er ins Publikum – «niemanden von Ihnen habe ich dort gesehen». Der bare Unsinn.
    FJR : Links ist ja nicht nur eine politische Plakatparole, es kann auch ein ästhetisches Prinzip sein. Das hat Ihr Kollege John Updike einmal so gefaßt: «Bellow glaubt an die Seele, er ist einer der ganz wenigen, bei deren Lektüre wir miterleben, wie die Mimesis eine Schicht oder zwei tiefer geht als je zuvor.» Zugleich wird immer wieder der Satz von Ihnen kolportiert: «Wirklichkeit – das ist, was ich hinterher in meine Bücher einmontiere.»
    BELLOW : Wenn ich das gesagt habe, muß ich nicht bei Sinnen gewesen sein. Da das Erinnern eine der Schubkräfte meines Schreibens ist – die andere ist das Aufladen geringfügigster Einzelheiten mit einer Art emotionaler Elektrizität –, erinnere ich mich, daß ich als Zwölfjähriger ein Stück von George Bernard Shaw sah und schockiert war über eine Sequenz, in der es etwa hieß: Zuerst mache ich ein Stück, und dann füge ich ein paar Gedanken hinzu. Ich bin schließlich kein Unterhaltungsschriftsteller, fühle mich im Gegenteil in dieser Welt der Soap-Operas und der Nachrichten, die keine mehr sind, überunterhalten. Wissen Sie: Ich bin ein Einzelgänger, ich habe keine Theorie, ich folge keiner Linie, ich mache mich zu niemandes Narren, und ich halte den Sturm aus, den manche meiner Äußerungen auslösen.
    FJR : Sie denken an den Skandal über Ihre Bemerkung des Jahres 1988 : «Wer ist denn der Tolstoi der Zulus, wer der Proust der Papuaner?»
    Bellow lacht.
    FJR : Stürme, Erfolge, Katastrophen, kürzlich eine lebensgefährdende Erkrankung – vielleicht ist es nicht indiskret, wenn ich jemanden in Ihrem Alter frage: Worin glauben Sie versagt zu haben, worüber würden Sie, am Ende Ihres Lebens, sagen: «Schade, es war vergebens»?
    BELLOW : Das kann ich Ihnen ganz genau sagen: Ich habe in allen meinen Romanen die signifikanten Ereignisse des

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